Text: Ute Latzke
Wegen seiner Leistungsfähigkeit, Beständigkeit und Formbarkeit ist Beton vielfältig einsetzbar und daher ein beliebter Baustoff bei Architekten. Sein Image als graue Maus hat er ohnehin längst abgelegt und überzeugt inzwischen auch durch ästhetisch gestaltbare Oberflächen. Trotz der Bandbreite wird intensiv an der Entwicklung weiterer Anwendungsfelder geforscht. Dazu braucht es den Ideenreichtum von Erfindern wie Heike Klussmann und Thorsten Klooster. Seit etwa 2009 widmet sich ihre Projektgruppe „Bau Kunst Erfinden“ der Entwicklung neuartiger Materialsysteme im Spannungsfeld von Kunst, Architektur und Wissenschaft. Auch wenn die Künstlerin und Professorin an der Universität Kassel und der Berliner Architekt nicht die Einzigen sind, die sich mit dem Mehrwert und den Möglichkeiten von Beton beschäftigen, werden die Ergebnisse ihrer Forschung jedoch besonders beachtet: Für „BlingCrete“ – einen reflektierenden und wegen seiner facettenreichen Effekte bei Architekten sehr beliebten Beton – erhielten die beiden bereits mehrere Auszeichnungen. Thorsten Klooster: „Beton ist ein vergleichsweise kostengünstiger synthetischer Werkstoff, der aufgrund seiner Zusammensetzung aus Bindemitteln, Zuschlag- und Zusatzstoffen und der vielfältigen Verarbeitungs-, Vor- und Nachbehandlungsmethoden in seinen Eigenschaften nahezu unbegrenzt manipulierbar und variierbar ist.“
TouchCrete: solider Kern – sensible Oberfläche
Eine solch vielversprechende Materialsynthese ist TouchCrete. Klussmann und Klooster haben einen elektrisch leitfähigen Beton entwickelt und mit einer berührungssensitiven Oberfläche ausgestattet. Mit diesem Prinzip werden ganze Betonflächen zu einem riesigen interaktiven Touchscreen, mit dem man Licht und andere elektronische Geräte steuern kann. Heike Klussmann: „Der Beton erkennt und lokalisiert intuitive Gesten wie Wischen oder Tippen, und eine Kontrolleinheit verarbeitet diese zu Steuerbefehlen für anhängige Aktoren oder Geräte. TouchCrete erlaubt die Ausbildung ganzer Wand- und Bodenflächen mit diesem Prinzip. Steuerungselemente, Schalter und Taster unterliegen keiner Beschränkung hinsichtlich einer Verortung oder Position. Anhängige Leitungssysteme sind auf ein Minimum reduziert. Denn: Der Beton selbst ist Sensor.“ Die Bedienelemente können dabei in den Dimensionen eines herkömmlichen Schalters, mittelgroßer Bauteile oder ganzer Wände ausgebildet werden. Touch-Crete bietet daher vielfältige Gestaltungs- und Einsatzmöglichkeiten im Hinblick auf Licht- und Steuerungstechnik, die sich vollständig in Boden und Wände integrieren lässt.
Ein weiterer entscheidender Vorteil von TouchCrete ist die Option, intelligente Bauelemente mit integrierter Kontrollfunktion („Smart Elements“) in die Betonflächen einzubauen. Damit lassen sich etwa Verformungen hoch beanspruchter Bauelemente, das zyklische Temperaturverhalten schwerer Bauteile oder die Raumtemperatur und -feuchte gerade auch im Hinblick auf die Energieeffizienz eines Gebäudes messen. Mögliche Verformungen oder Schäden im Beton werden somit rechtzeitig erkannt und lokalisiert.
Erster Einsatz in Pilotprojekten
Bislang existieren funktionsfähige Prototypen und Demonstratoren in den Dimensionen von Lichtschaltern und Plattenformaten bis 130 mal 50 Zentimeter. Zwei Pilotprojekte als prototypische Anwendungen in Gebäuden sind derzeit in Vorbereitung. Heike Klussmann: „Wir entwickeln unter anderem ein TouchCrete-Modul für ein Seniorenwohnheim in Norditalien, das in der ersten Testphase in 30 Wohneinheiten zum Einsatz kommen wird. Bei dem zweiten Pilotprojekt handelt es sich um ein Einfamilienhaus in München. Hier werden wir TouchCrete zur Lichtsteuerung einsetzen. Die Inbetriebnahme beider Projekte ist für den Sommer 2015 geplant.“
Bei „Bau Kunst Erfinden“ ist man überzeugt davon, dass TouchCrete massentauglich ist und sich in der Praxis bewähren wird. Thorsten Klooster: „TouchCrete hat das technologische Potential einer robusten Hightech- und zugleich Low-Cost-Anwendung. Denn es basiert auf frei verfügbaren, kostengünstigen Zuschlagstoffen. Und für die Forschung und Entwicklung nutzen wir derzeit Open-Source-Codes und die Soft- und Hardware der offenen Arduino-Plattform, die wir in einem zweiten Entwicklungsschritt auf die Standards der Lichtplanung und der lichttechnischen Steuerung portieren.“ Inzwischen bestehen auch einige produktive Kooperationen mit Fertigteileherstellern und Architekten.
DysCrete – Solarstrom aus Beton
Im Zuge der Energiewende ist die Stromerzeugung über Photovoltaikanlagen gängig und weit verbreitet. Dabei sind die Platzkapazitäten auf Deutschlands Dächern für die raumgreifenden Solarmodule fast erschöpft. Der von „Bau Kunst Erfinden“ entwickelte DysCrete macht sich anders als bei den PV-Anlagen das Prinzip der mit einem Farbstoff sensitivierten Solarzelle (DYSC: Dye Sensitized Solar Cell) des Chemikers Michael Grätzel zunutze: Die organischen Farbstoffe absorbieren Licht ganz ähnlich wie chlorophyllhaltige Pflanzen bei der Photosynthese und erzeugen Energie über eine elektrochemische Reaktion. Dieses als technische Photosynthese bezeichnete Prinzip lässt sich auf Beton übertragen und eignet sich daher besonders als Fertigteilsystem im Hochbau für Fassaden, Wand, Boden und Decke. Da DysCrete als Farbstoff-Solarzellensystem auch bei diffusem Licht funktioniert, gibt es anders als bei herkömmlichen Solaranlagen kaum Einschränkungen bezüglich der Anwendungsbereiche, der Bauteilgeometrien oder der Anbringung an oder auf einem Gebäude.
Allerdings ist der Wirkungsgrad bei diesem Solarbeton im Vergleich zu den bei mono- oder polykristallinen PV-Zellen üblichen zwölf bis 20 Prozent deutlich niedriger. Thorsten Klooster: „Doch DysCrete ist regenerierbar, rezyklierbar und umweltfreundlich. Die Ausgangsstoffe sind größtenteils frei verfügbar, kostengünstig und der Herstellungsaufwand ist im Vergleich zu Photovoltaikanlagen sehr gering. Außerdem sind zur Herstellung keine Reinraumanlagen erforderlich, die Module werden in kostengünstigen Druck- oder Sprühverfahren hergestellt. Damit hat DysCrete genau wie TouchCrete die besten Voraussetzungen für Low Cost Energy Sources.“ Die Forscher von „Bau Kunst Erfinden“ halten es sogar für denkbar, dass ein mit DysCrete-Modulen erstelltes Gebäude ausreichend Energie für den Eigenbedarf produziert. Allerdings sei dies auch abhängig von der Gebäudetypologie und bestimmten Bau- und Konstruktionsweisen. Auch wenn die Forscher die Fertigteile als faserbewehrten Beton mit für diesen Werkstoff eher geringen Bauteildicken von etwa zwei Zentimetern entwickeln, sei DysCrete trotzdem ein „schwerer Baustoff“. Das heißt: Von Vorteil sind Gebäude mit geschlossenen Fassadenflächen oder einem hohen Anteil an Glas, wodurch die solare Einstrahlung auf DysCrete-Flächen im Inneren, wie Decken, Wände und Böden, möglich wird.
Das Potenzial von DysCrete für die Braubranche hat auch das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) erkannt und fördert das Projekt im Zuge der Forschungsinitiative Zukunft Bau seit Juli 2013. Seitdem konnte die Leistung der Betonsolarzellen um das 15-Fache gesteigert werden. Auch die Standfestigkeit und Lebensdauer wurden optimiert. Klussmann: „Die Zellen arbeiten ununterbrochen, und derzeit entwickeln wir Parallel- und Reihenschaltungen, um größere Betonmodule herzustellen.“ Wann DysCrete auf dem Markt verfügbar sein wird, lässt sich noch nicht genau sagen. Doch auch hier wird die Kooperation mit dem FG Werkstoffe des Bauwesens und der Bauchemie an der Universität Kassel, der TU Delft, der Lothar Beeck Fertigteilbau GmbH und dem Betonzuschlagstoff-Hersteller Fabrino die Entwicklung von DysCrete weiter vorantreiben.
Ute Latzke ist freie Journalistin in Wuppertal.
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