Text: Susanne Jacob-Freitag
In ganz Europa machen derzeit eine Reihe außergewöhnlicher Holzbauwerke großer Dimensionen Furore. Sie zeigen, dass Projekte, die man sonst nur dem Stahl- oder Stahlbetonbau zutraut, auch in Holz möglich sind. Die neuen Holzbauten präsentieren sich zuweilen in einer bisher nicht gekannten Ästhetik. Ihre besonderen Formen inspirieren viele Architekten, sich wieder dem altehrwürdigen Baumaterial zuzuwenden, das heute als Hightech-Werkstoff daherkommt. Intelligent gewählte Tragwerke sind enorm leistungsfähig und zugleich leicht. Architektonisch vielseitige und innovative Großbauwerke in Holzbauweise findet man derzeit vor allem in der Schweiz. Laut einer Untersuchung der Berner Fachhochschule Architektur, Bau und Holz hat die Zahl der bewilligten Projekte zwischen 2010 und 2013 um über 20 Prozent zugenommen. In Deutschland und Österreich gibt es ebenfalls ambitionierte Bauvorhaben, und auch in den bisher nicht als Holzbaunationen bekannten Ländern, wie Frankreich, entstehen außergewöhnliche Bauwerke. Beispiele sind der Neubau für die Filmkunst-Stiftung Fondation Jérôme Seydoux-Pathé von Renzo Piano in Paris oder das im Bau befindliche Weinmuseum in Bordeaux in Form einer Dekantierkaraffe.
Schweiz: Konferenzsaal und Elefantenhaus
Zu den neuesten Projekten in der Schweiz zählt der im September 2014 fertiggestellte Konferenzsaal der Weltorganisation für geistiges Eigentum, kurz WIPO (World Intellectual Property Organization), von Behnisch Architekten in Genf. Den Planern zufolge besitzt das Gebäude den weltweit längsten Kragarm aus Holz: Eine Seite der vier verschränkten, guckkästenähnlichen Holzröhren, die den skulpturalen Baukörper bilden, ragt 35 Meter über den zentralen Sockelbau hinaus. So scheint das kompakte und weitgehend geschlossene Bauwerk über dem Platz der Nationen zu schweben. Für das höchst unsymmetrische Gebilde wurde ein Tragwerk aus Hohlkasten-Elementen und Fachwerken entwickelt. Die Entscheidung für Holz fiel hier aufgrund der Vorgabe des Bauherrn, der ein nachhaltiges Gebäude wünschte.
Das Anfang Juni 2014 eröffnete Elefantenhaus im Züricher Zoo hat eine ganz andere Architektursprache. Das charakteristische Element bildet das imposante Dach, dessen frei geformte Holz-Tragschale das Innengehege mit einem Durchmesser von rund 80 Metern netzartig überspannt. In die Holzschale eingeschnittene Oberlichter sind mit Luftkissen gefüllt und versorgen die bis zu 18 Meter hohe Halle mit viel Tageslicht. Ziel war es, ein Blätterdach zu simulieren. Das Besondere daran ist die konsequente Übersetzung der Entwurfsidee in die tragwerkplanerische Lösung einer zweifach gekrümmten Kuppel mit geschwungenem Rand. Die gelöcherte und sehr flache Dachschale erforderte eine hocheffektive und gewichtsparende Konstruktion. Hierfür entwickelten die Planer einen mehrteiligen Verbundquerschnitt mit einem aufgedoppelten Sekundärtragwerk für Luftkissen, Wärmedämmung und Leitungen. Das Projekt ging aus einem internationalen Architektenwettbewerb hervor, den Markus Schietsch aus Zürich gewann.
Frankreich: Multifunktionales Stadion
Seit September 2013 hat die französische Stadt Nizza eine Attraktion mehr: das neue Multifunktionsstadion „Allianz Riviera“, ausgelegt für 35.000 Zuschauer. Das Plusenergie-Stadion gilt als Vorzeigeobjekt der Region. Der Entwurf der geschwungenen Dachkonstruktion, die einerseits das Spielfeld luftig umschließt, andererseits die Form der landschaftsprägenden Hügelketten aufnimmt, stammt vom Pariser Architekturbüro Wilmotte & Associés. Holz bot neben dem kleinen CO2-Fußabdruck zwei weitere Vorteile: hohe Druckfestigkeit bei geringem Eigengewicht und damit die Verringerung des Eigengewichts des Gesamttragwerks, was sich positiv auf die zu berücksichtigende Erdbebensicherheit des Bauwerks auswirkte – Nizza liegt in einer Erdbebenzone. Das Stadion besteht aus Sockelbau, Tribüne und einem netzartigen Holz-Stahl-Gewölbe, überspannt mit einer Membran. Die Halbrahmen der Dachkonstruktion mit einem Innenbogen aus gekreuzten Brettschichtholz-Holz-Balken und einem gekrümmten Bogenrücken aus Stahlrundrohr kragen in einer Höhe von 30 Metern über dem Rasen 46 Meter weit über die Tribüne aus.
Österreich: Shopping-Mall und Aussichtsturm
Herzstück des „G3 Shopping Resort“ in Gerasdorf bei Wien ist sein etwa 550 Meter langes Dach. Die aus gekrümmten Brettschichtholz-Trägern und Brettsperrholz-Platten bestehende Konstruktion überspannt das Gebäude wie eine riesige Welle. Es soll mit einer Fläche von 60.000 Quadratmetern das weltweit größte dieser Art sein. Entworfen hat es das Wiener Büro ATP Architekten und Ingenieure. Für Holz sprechen hier unter anderem die Wohlfühlatmosphäre, die der Naturbaustoff den Besuchern bieten soll, die Vorfertigung der Träger und Platten, die Aufnahme hoher Kräfte sowie die Begehbarkeit der Dachfläche nach der Montage.
Der 100 Meter hohe Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel in Kärnten gilt derzeit als weltweit höchstes Bauwerk seiner Art. Entsprechend der Vorgabe des von der Gemeinde Keutschach ausgelobten Architektenwettbewerbs sollte eine zeitgemäße, innovative Lösung aus heimischem Holz mit einer einzigartigen Gestaltung entworfen werden. Überzeugt hatte hier die skulpturale Formensprache von MarkusKlaura und Dietmar Kaden aus Klagenfurt. Ihre Idee basiert auf einer geometrisch generierten Hülle, die von einem elliptischen Grundriss ausgeht, der sich, jeweils um ein bestimmtes Maß versetzt, um sein Zentrum in die Höhe schraubt. Realisiert wurde die Turmkonstruktion mit 16 einachsig geschwungenen Stützen aus Lärchen-Brettschichtholz. Stabilisiert und zusammengehalten werden sie durch elliptische Stahlringe, die sich alle 6,40 Höhenmeter um 22,5 Grad im Uhrzeigersinn drehen. Die Geometrie basiert nur auf vier Zahlen: den Durchmessern der Ellipsen (R1 = 10 m, R2 = 17,30 m), der Anzahl der Stützen und dem vertikalen Abstand der Stahlringe.
Deutschland: Inline-Arena und Autobahnmeisterei
Die erste überdachte Inline-Arena Deutschlands eröffnete im April 2010 im Schwarzwald-Städtchen Geisingen. Die hölzerne Dachkonstruktion ruht auf nur vier Innenstützen, um den Zuschauern optimale Sichtverhältnisse zu bieten. Das Dachtragwerk aus Brettschichtholz-Trägern überspannt das etwa 125 Meter lange und 68 Meter breite Bauwerk mit elliptischem Grundriss wie ein Trägerrost auf Stützen. Über dem Tragwerk wurden gedämmte Hohlkasten-Elemente mit Akustikprofilierung und fertiger Dachhaut verlegt. Gebaut hat hier ein Investoren-Ehepaar. Der Entwurf für die etwa 7.500 Quadratmeter große Sportanlage stammt vom Architekturbüro Centraplan aus Kirchzarten. Damit in der Arena auch Weltmeisterschaften stattfinden können, entspricht sie internationalen Standards.
Wer auf der A 6 bei Öhringen in Baden-Württemberg unterwegs ist, kann die Autobahnmeisterei mit ihren insgesamt fünf Holz(misch)bauten entdecken. Da sich das Gebäudeensemble inmitten von Agrarland befindet, favorisierte das Regierungspräsidium Stuttgart Holz als vorrangigen Baustoff. Entwurf und Planung stammen von den Architekten des Karlsruher Büros FKS Generalplaner. Technisch ausgeklügelt ist vor allem die 25,25 Meter lange, 22 Meter breite und 13 Meter hohe Salzlagerhalle, deren Wände dem Druck des bis zu vier Meter hoch lagernden Schüttgutes standhalten müssen. Wegen der aggressiven Raumluft musste das Gebäude sogar vollständig aus Holz bestehen. Der Baustoff ist nicht nur unempfindlich gegen Salz, sondern wird dadurch sogar konserviert.
Italien und Luxemburg: Imposante Bäder
Der 2011 eröffnete Wasserpark „Acquaworld“ in Concorezzo bei Mailand hat ebenso wie das Freizeit- und Schwimmzentrum „Les Thermes“ im luxemburgischen Strassen (2009) eine ungewöhnliche Form und damit ein außergewöhnliches Tragwerk. In Concorezzo symbolisieren die Kuppeln Wassertropfen, in Strassen stand das Erscheinungsbild eines aufgeschnittenen Edelsteins beim Entwurf Pate. Die wichtigsten Gründe, Holz zu verwenden, waren die möglichen Formgebungen und die Unempfindlichkeit gegen Chlor. Der Architekt der Acquaworld, Federico Pella aus Concorezzo, und die Architektengemeinschaft der Les Thermes, Jim Clemes, Witry & Witry, Hermann & Valentiny aus Remerschen, setzten auf eine offene Konstruktion, die ihrer Entwurfsidee Gestalt verlieh. Die vielen unterschiedlichen Träger und Bogenbinder ließen sich am wirtschaftlichsten in Brettschichtholz planen und fertigen. Beide Spaßbäder sollten auch wegen der Kriterien „Gesundheit“ und „Natur“ mit Holz gebaut sein.
Verkehrs-Projekte in Großbritannien und Norwegen
In Canary Wharf, einem Geschäftsviertel von London, wurde im Frühjahr 2014 die spektakuläre Holzkonstruktion des Tonnendachs der Crossrail-Bahnstation fertiggestellt. Das von Norman Foster entworfene Gebäude dieses wichtigen Verkehrsknotenpunkts steht mitten im Wasser des West India Docks, eines Seitenarms der Themse. Es ist etwa 300 Meter lang, hat vier Geschosse unter und zwei über dem Wasser sowie einen Park auf dem obersten Deck, den eine Gitterkonstruktion in Holzbauweise mit Membrankissen überdacht. Das Tonnendach überspannt den Unterbau mit rund 31 Metern über die gesamte Länge der Station und ragt wie eine Schirmmütze an beiden Enden jeweils 30 Meter über das Wasser hinaus. Das Holztragwerk besteht aus 1.525 Stäben, davon sind 1.414 aus BS-Holz und 111 aus Stahl. Die Haltestelle Canary Wharf wurde im April 2015 eröffnet.
Ebenso spektakulär sind die Tragwerke der im Bau befindlichen Erweiterungsgebäude für den Flughafen Oslo-Garder-moen. Die Bauherren wollten mit natürlichen Materialien so umweltfreundlich wie nur möglich bauen. Die Dachkonstruktion des Terminals beeindruckt vor allem durch die rund 91 Meter langen und 4,20 Meter hohen Zwillings-Fachwerkträger. Ihre Form mit den gerundeten Untergurten ist einem Flugzeugflügel nachempfunden. Die Auflager bilden jeweils zwei Betonstützen, deren Abstand 54 Meter beträgt. Über diese Auflagerpunkte ragen die Fachwerkträger auf der einen Seite 13,65 Meter und auf der anderen sogar 23 Meter hinaus. Auch die Konstruktion des röhrenförmigen Flugsteigs „Pir Nord“, der sich von einer 16 Meter hohen und 46 Meter breiten Röhre kontinuierlich auf 116 Meter Breite aufweitet, sucht ihresgleichen. Gebildet wird sie von doppelten Brettschichtholz-Bogenbindern. Bis April 2017 soll der Erweiterungsbau fertig und Oslos Airport dann der größte Flughafen Skandinaviens sein.
Dipl.-Ing. (FH) Susanne Jacob-Freitag ist freiberufliche Baufachjournalistin in Karlsruhe.