Kaum eine andere Disziplin reflektiert die kulturellen Wertvorstellungen einer Gesellschaft so deutlich wie die Architektur. Und kaum eine andere wird so stark diskutiert: Als „res publica“ ist sie ständig dem Urteil der Allgemeinheit und ihrer Nutzer ausgesetzt. Bauwerke erlangen gesellschaftliche Akzeptanz, wenn sie positiv wahrgenommen werden. Doch herrscht kein Konsens darüber, was positiv ist. Wir führen lebhafte und lang anhaltende Auseinandersetzungen um die Qualitäten des Zeitgenössischen und des Traditionsorientierten, um den Widerspruch zwischen individueller Gestaltungsform und der Einordnung in den räumlichen Kontext.
Jedoch diskutieren wir auf unterschiedlichen Niveaus. Die einen argumentieren anspruchsvoll architekturtheoretisch, die anderen folgen spontanen Impulsen. Woher kommt diese Diskrepanz? Architektur und Baukultur sind längst nicht genug im Kanon unseres Bildungssystems verankert. Es fehlt an öffentlichem Bewusstsein dafür, wie stark die gebaute Umwelt Menschen beeinflusst und prägt. Individuell und gemeinsam können wir als Architektenschaft Defizite abbauen und Brücken schlagen. Unser wichtigstes Dauerprojekt ist der Tag der Architektur, der sich längst fest etabliert hat. 1.500 Projekte im ganzen Land öffnen überwiegend am letzten Juni-Wochenende ihre Tore; jedes von ihnen dürfte im Durchschnitt von mehr als hundert Besuchern aufmerksam wahrgenommen werden. Die Öffentlichkeit und auch Architekten werden angeregt, sich über Anspruch und Wirklichkeit, Alltagsarchitektur und Leuchttürme zu informieren, sie zu reflektieren und sich darüber auszutauschen. Doch Architektur ist kein Thema für nur ein Wochenende im Jahr. Täglich finden irgendwo im Land fachliche Bildung und Baukultur-Diskurse statt, und Tausende unserer Kollegen engagieren sich im Sinne einer baukulturellen Aufklärung. Das geschieht auf Bürgerversammlungen und Ausschusssitzungen, in Gestaltungsbeiräten und Preisgerichten oder in Baukultur-Organisationen und Bildungseinrichtungen. Vor allem unter dem Motto „Architektur macht Schule“ leisten Kammern und engagierte Architekten sinnvolle Basisarbeit. Wir brauchen aber nicht nur den Dialog mit der Welt, sondern ebenso den Austausch untereinander. Für ihn bieten Architektenkammern immer wieder Plattformen, sei es in Fortbildungen oder in lokalen Veranstaltungen. Besonders ambitioniert ist der Deutsche Architektentag, der eine Positionsbestimmung des Berufsstandes darstellen wird. Am 11. und 12. Oktober 2015 ist es wieder so weit; Einzelheiten finden Sie auf der nächsten Seite.
Besonders freue ich mich, dass der Deutsche Architektentag diesmal in Hannover stattfindet – und dort in Gebäuden, die prädestiniert sind, lebhafte Fachgespräche anzuregen: Schauplatz des Architektenfestes am 11. Oktober ist der Erweiterungsbau des Sprengel-Museums der Züricher Architekten Meili + Peter, der just drei Wochen vorher eröffnet wird und mit seiner kompromisslos modernen Sprache schon jetzt für heftige Diskussionen in der Stadt gesorgt hat. Der Architektentag selbst am 12. Oktober findet in Schloss Herrenhausen statt – außen eine Rekonstruktion des klassizistischen Baus, innen von JK Jastrzembski Kotulla Architekten aus Hamburg konsequent zeitgenössisch gestaltet. Auch dies ist ein Ort der Spannungen und Widersprüche, die den Diskurs anregen werden. Zum Deutschen Architektentag sind Sie herzlich eingeladen. Bilden Sie sich weiter – und tragen Sie mit Ihren Beiträgen zu unser aller Bildung bei!
Wolfgang Schneider, Präsident der Architektenkammer Niedersachsen.