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Zurück Schwerpunkt: Inseln

Die Altstadt als Neuland

Altstädte gelten als urbane Traditionsinseln. Doch viel mehr sind sie Teile der modernen Stadt – und können Vorbild für deren Weiterbau sein.

29.06.20157 Min. 1 Kommentar schreiben
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Modernes Köln: Was „Altstadt“ heißt, ist ein Werk des 20. Jahrhunderts – einschließlich des „Alt-Kölner Haustyps“.

Text: Roland Stimpel

Wie die Insel ihre Ufer, so hat die Altstadt ihre klar definierten Grenzen: Reste von Mauern, Grünsäume und Ringstraßen. Draußen herrscht ozeanische Dynamik, drinnen der Denkmalschutz. Vor drohenden Modernisierungs-Fluten schützt er im Bund mit Gestaltungssatzungen, Bebauungsplänen und kommunalen Vorkaufsrechten, mit Heimatvereinen und Tourismus-Lobbyisten.

Auch ideell ist die Altstadt eine Insel im Meer: Sie steht für Ursprung statt traditionsarmes Neues, für lokale Identität statt globale Beliebigkeit, für Jahrhunderte lange Kontinuität statt Kurzatmigkeit und laufende Veränderung. Wer durch eine „gut erhaltene“ Altstadt läuft, wähnt sich in einem Stück Stadt aus längst vergangenen Zeiten.

Aber genau das sei sie nicht, sagt der Bamberger Kunsthistoriker Gerhard Vinken. Im Mai organisierte er die Tagung mit dem bezeichnenden Titel „Produkt Altstadt – The Making of the Old Town“. Schon vor fünf Jahren hat er ausführlich im Buch „Zone Heimat“ dokumentiert, wie wenig alt unsere Altstädte sind, auch wenn sie so aussehen und manche Häuser tatsächlich seit vier- oder gar achthundert Jahren auf ihrem Platz stehen.

 

Normierende Stadtbildpflege

Das gilt zunächst physisch: Natürlich wurden auch die ehrwürdigsten Altstadthäuser immer wieder um-, an-, ab- und neu gebaut, wurden aus wirtschaftlichen oder militärischen Gründen, nach Großbränden oder Zerstörungen Stadtgrundrisse geändert. Die letzte Umbauwelle in westdeutschen Altstädten ist erst 40 Jahre her, in ostdeutschen nur 20 Jahre: die Anpassung an moderne Wohnwünsche, der in manchen Quartieren ein Großteil aller Hinterhofbauten zum Opfer fiel und auch in den „erhaltenen“ Häusern ein Großteil zumindest der Innenwände, Dächer, Fenster, Treppen und (sofern es sie vorher gab) Sanitäranlagen sowie Haustechnik.

Die Altstadt-Nutzung hat sich seit ihrem Aufbau so oft und radikal gewandelt wie der Alltag der Menschen selbst. Auch die scheinbar kleinteiligen, vielfältigen Altstädte neigen zur Monofunktionalität. Manche dienen nur dem Handel, der die Erdgeschosse so vollständig beherrscht, dass kein Platz mehr für Treppen nach oben ist und ab Etage eins alles leer steht. Die Altstadt von Bad Münstereifel gehört fast komplett einem Handelskonzern, der sie als Outlet- Center vermarktet. Andere Altstädte dienen dem Besichtigungs-, Souvenir- und Cafétourismus oder sind schlichte Kneipenmeilen wie die berühmt-berüchtigte von Düsseldorf, aber auch die von Heidelberg, Freiburg oder Fürth. Deren ärgste Feinde sind Altstadt-Bewohner, die statt der Kneipenmeilen am liebsten ebenso monofunktionale stille Winkel hätten. Altstädte sind laut Vinken zu „Funktionszonen“ geworden wie alle anderen Stadtgebiete auch.

Weit jünger, als das Auge gern glauben würde, ist auch das Bild vieler Altstädte. „Lübeck wurde erst durch kontinuierliche Stadtbildpflege zur norddeutschen Backsteinstadt“, schreibt Vinken. Was als „Alt-Kölner Haustyp“ gilt, ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts – laut Vinken eine „zeitlos schlichte Traditionsform unter Ver­meidung einer genaueren historischen Zuordnung“. Wie er am Beispiel von Basel nachweist, ist die Entwicklung der vermeintlichen Geschichtsinseln von einer zunehmenden „Normierung“ gekennzeichnet, seit Stadtplanung und Denkmalschutz sie unter ihre Fittiche genommen haben. In der vom Krieg verschonten Stadt proklamierte man 1945 die „ästhetische und hygienische Wiederherstellung der Altstadt“. Teil davon war eine „umfassende Tilgung der Gründerzeitarchitektur“ – deren Dimensionen und Stile störten das Altstadt-Bild.

Ziemlich jung sind auch die Idee und der Begriff der Altstadt. Gedanklich in der Welt sind sie laut Vinken erst seit der „Zeit der Industrialisierung, wo Erneuerung und Wachstum der Städte eine radikale Beschleunigung erfuhren“. Viele bekamen erst in dieser Zeit so viel neue Masse, dass man dagegen die überkommene als „alt“ bezeichnen konnte. Seitdem beschleunigt sich die Welt; auch die Lebensdauer von Häusern ist oft kürzer als die von Menschen. Nur in der Altstadt scheinbar nicht, und damit gewann sie eine neue Funktion: Sie soll auf Herkunft und Wurzeln verweisen, für das Unveränderliche und Unverwechselbare stehen. Sie ist eine Zone wie andere auch – die Städte beginnen sich zu unterteilen in Wohngebiete, Gewerbegebiete, Erholungsgebiete und ein Traditionsgebiet für den Mentalgebrauch. Die Altstadt ist auch damit keine Insel im Meer der neuen Zeit – sondern sie „bildet in den Funktionsräumen der modernen Stadt einen Sonderzone“, analysiert Vinken.

Die Welt will Altstadt sehen

Für den heutigen Umgang mit Altstädten kann man aus seiner Analyse zwei ganz gegensätzliche Folgerungen ziehen. Die erste kann lauten: Die Altstadt ist eine Täuschung und nichts Authentisches. Ihre Aura ist unecht. Vinken meint: „Die Geschichte der Altstadt, so ließe sich resümieren, ist eine Geschichte der Fälschungen.“ Hier spricht allerdings der Kunsthistoriker, der wie viele seiner Kollegen die Kategorien für ästhetische Einzelobjekte recht kühn auf ganze Stadtviertel anwendet. Aber folgt man ihm, dann kann man getrost die Altstädte abschaffen – ohne sie wäre die Welt ehrlicher.

Wer das aber irgendwo als Stadtrat fordern würde, bräuchte zur nächsten Wahl gar nicht erst anzutreten. Die materiellen und ideellen Feinheiten hinterm Altstadtbild interessieren die meisten Stadtbürger nicht, auch nicht die Traditionsvereine und Touristen, die Lokaljournalisten und Bürgermeister. Sie stillen in der Altstadt fröhlich den „Hunger nach Echtem“. Das sagt Baudrillard, zitiert von Vinken, für den dieser Hunger „nur noch mit Fälschungen zu befriedigen ist und in eine Welt der Simulationen treibt“. Doch das fröhlich-naive Publikum guckt an moralisch erhobenen Zeigefingern fröhlich vorbei, geradewegs in krumme Gassen und auf urige Giebel aus dem 11. oder auch 21. Jahrhundert.

Die Welt will Altstadt sehen, aus verschiedensten Gründen und in unterschiedlichster Form. Und wenn sie fehlt, dann wird sie eben neu gebaut. Die Altstadt von Köln ist die 1950er-Jahre-Realisierung einer 1930er-Jahre-Idee, wie Vinken zeigt. Polen vergewisserte sich nach dem Krieg seines Überlebens als Nation mit dem Aufbau des Warschauer Marktplatzes nach Canaletto-Stichen. Die DDR zimmerte in den 1980er-Jahren zwischen hundert verfallenden Altstädten aus Betonplatten und Abriss-Überbleibseln das Berliner Nikolaiviertel zusammen.

Hildesheim hat Bauten der ersten Nachkriegsjahre zugunsten des Knochenhauer-Amtshauses und anderer alt-neuer Fachwerkbauten abgerissen. Dresden wollte rund um die Frauenkirche eine Umgebung mit historischen Anklängen – der man aber das jugendliche Alter deutlich ansieht. Frankfurt lebt von seinem Wechselspiel zwischen ziemlich neuen Geldtürmen und teils noch neueren Giebelhäusern. Demnächst werden sich dort manche Besucher fragen, wie man zwischen den gerade entstehenden Sandsteinfassaden auf dem Römerberg und der 1984 gebauten Fachwerkzeile am Römer-Platz so etwas Postmodernes wie die Kunsthalle „Schirn“ zulassen konnte.

Die Diskussion um neue Altstadt-Teile läuft immer gleich ab: Mehrheiten setzen sich gegen Bedenkenträger durch, die von Lüge, mangelnder Authentizität und – das Wort darf nie fehlen – von „Disneyland“ sprechen. Kurz nach dem Neubau eines Stücks Altstadt fremdeln noch viele Bürger damit, Fachkritiker ohnehin. Doch nach wenigen Jahren ist man es gewohnt. Manche Städte, etwa Warschau, nennen stolz die Entstehungszeit. Anderswo kümmert sie kaum noch jemanden.

Nicht das Alter der Steine zählt, sondern das historisch anmutende Bild, die tatsächlich oder scheinbar handwerklichen Details, die oft putzigen Dimensionen und nicht zuletzt einige städtebauliche Qualitäten: die kleinen Parzellen, die Raum­bildung in Gassen und auf Plätzen, das Krumme, Überraschende und Abwechslungsreiche. Nicht zuletzt schätzen Altstadt-Besucher die Abwesenheit von Autos, so dass man seine Schritte hallen hört und an keiner Ampel im Lärm und Gestank devot auf Grün warten muss. A propos Grün: Es stört bezeichnenderweise niemanden, dass die Altstadt so wenig Bäume und Rasen hat wie kein anderer Teil der Kommune.

Auch wenn Vinken das sicher nicht gewollt hat: Aus seiner Erkenntnis, dass keine Altstadt so richtig alt ist, lässt sich auch der Neu-, Weiter- und bildliche Wiederaufbau von Altstädten legitimieren. 50-jährige Altstädte sind beliebt, werden viel besucht und erfüllen ihren Zweck genau wie 500 Jahre alte (sofern es die gibt). Das spricht dafür und nicht dagegen, in fünf Jahren hier und da noch mehr Altstadt zu bieten.

Und nicht nur im wahrhaft oder scheinbar historischen Kern. Dieser kann auch dem Rest der Gemeinde Referenzen für guten Städtebau geben – für dichte, kleinteilige Quartiere mit individuellen Häusern und Straßen, die für fahrende wie parkende Autos freundlicherweise zu eng sind. Auch damit sind Altstädte keine Traditionsinseln. Eher zeigen sie eine mögliche urbane Zukunft.

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1 Gedanke zu „Die Altstadt als Neuland

  1. Der Mensch mag die kleinen schiefwinkeligen Gebäude in ebensolch schiefen Sträßchen und Gassen.

    Man überschätzt aber die Bedeutung der Architektur darin – sicher hat sie eine große Bedeutung, aber sie ist nicht die Hauptsache.

    Viel wichtiger ist der Städtebau – ist die Erhaltung oder Schaffung kleinräumiger und kleinteiliger – damit abwechslungsreicher und interessanter Strukturen; sind die Vorgaben an Gebäudebreite und deren Höhe – insbesondere im Verhältnis zu der Straßenbreite. Wichtig sind Aufweitungen und Verengungen des öffentlichen Raumes, Plätze und Platzfolgen. Ebenso eine gute Verteilung von öffentlichen Räumen und Gebäuden, Monumenten, Stadtmöblierungen pointentiertem Grün und der Erzeugung vermeintlicher Privatheit.

    Während also einige Städte sich die Altstadt zurückerobern – wollen, setzt meine Heimatstadt erneut auf ein sterbendes Pferd: In Bremen soll ein dickes Einkaufszentrum in die Altstadt gepflanzt werden.
    Eine Gelegenheit, die als unangenehm empfundenen Großstrukturen der Nachkriegszeit etwas abzumildern, wird nicht nur nicht genutzt, nein die altstadtfremden Großstrukturen werden noch zunehmen. Masse statt Klasse!

    Ja, und das Disneyland-Argument…. Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt…. Die Altstadt ist eine Frage der Liebe zur eigenen Stadt und des Krieges um Kunden und Touristen – im direkten Konkurrenzkampf mit den Einkaufsmalls, ist die variantereiche, variable, lebendige Innenstadt das As, das sticht!

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