Text: Christoph Gunßer
Die ganze Architektur, sagte der große Raumbildner Herman Hertzberger einmal, drehe sich um Deckung und Ausblick. Totaler Durchblick und völlige Transparenz können aus dieser Sichtweise nicht erstrebenswert sein. Vielmehr besteht die Kunst darin, Ausblick zu ermöglichen, ohne allzu viel Einblick zu gewähren. Als die Menschen sesshaft wurden, boten geschützte Höhlen mit weitem Sichtfeld die besten Bedingungen fürs Überleben – als Wohnplätze sind sie in großer Zahl nachgewiesen. Noch bis vor rund hundert Jahren waren Lochfassaden Standard, deren Fenster Brüstungen hatten – schon das Wort betont die Schutzfunktion.
Erst die moderne Architektur nutzte die neuen technischen Möglichkeiten zur weiteren Öffnung des Hauses. Ihre Interpreten sahen darin ein Sinnbild der neuen Gesellschaft. Siegfrid Giedion war 1929 in seinem Buch „Befreites Wohnen“ überzeugt, dass „das geöffnete Haus eine Widerspiegelung des heutigen seelischen Zustandes bedeutet. Es gibt keine isolierten Angelegenheiten mehr. Die Dinge durchdringen sich.“ Für Walter Benjamin war Glas im selben Jahr gar „der Feind des Geheimnisses“: „Der Aufenthaltsort des Menschen wird zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt, steht im Zeichen der Transparenz.“ Der Poet Paul Scheerbart hatte schon 1913 Bruno Tauts Kölner Glaspavillon besungen: „Das bunte Glas zerstört den Haß. Ohne einen Glaspalast ist das Leben eine Last.“ Walter Gropius wollte im kollektiven Wohnen die „Öffnung zum Allraum“ verwirklichen, in der es keine Privatsphäre mehr geben würde. Von diesen radikalen Träumen ist wenig geblieben.
Nur der wortkarge Mies van der Rohe begriff, dass Glas vor allem eines konnte: die Natur optisch ins Haus hineinholen. „Wenn Sie die Natur durch die Glaswände des Farnsworth House sehen, bekommt sie eine tiefere Bedeutung, als wenn Sie außen stehen. Sie wird Teil eines großen Ganzen.“ Seine fast schutzlosen Kristallhäuser funktionierten aber eben nur dort, in der Natur, wo Bäume sie beschirmten und kein unerwünschtes Publikum auftauchen konnte.
Bloß keine Aquarien
Wo sie nicht solche Bedingungen vorfinden, gehen heutige Architekten sehr viel differenzierter mit Transparenz um als Mies, auch wenn sie sich häufig auf ihn beziehen. „Glasarchitektur kann unheimlich arrogant und autistisch sein“, sagt etwa Ingo Bucher-Beholz, der fast nur mit Stahl und Glas baut, aber sorgsam auf Kontraste achtet. Es müssten weitere Schichten und Materialien hinzukommen. „Wir bauen nie diese knappen Aquarien.“ Umlaufende Balkone prägen die meisten seiner filigranen Häuser (als großes Vorbild nennt BucherBeholz in dieser Hinsicht Egon Eiermann). Decken und Böden aus Holz gleichen die Leichtigkeit der Hülle aus und sorgen für Erdung. Berankung und halb durchlässige Schiebeelemente geben den Fassaden Tiefe und einen gewissen Schutz.
Doch verlangt Bucher-Beholz‘ Bauweise schon Offenheit seitens der Bauherren – „Ikea-Regal“ hat der Volksmund die filigranen (und aufgrund der rationellen Bauweise auch relativ preiswerten) Strukturen schon getauft, weil sie so großzügig Einblick gewähren. Der Architekt sieht bei seinen Bauherren aber inzwischen eine „ganz andere Grundhaltung“ wachsen, die etwa von Wohnerfahrungen in WGs geprägt sei. In den immer gleichen Lochfassaden der Bauträger-Angebote finde sich diese Gruppe nicht wieder – „trostlos“ resümiert Bucher-Beholz die Marktlage. Würde also die „Generation Facebook“, die im Netz viel von sich preisgibt, womöglich auch beim Wohnen neue Wege wagen?
Baut die Generation Facebook offener?
In diese vermeintliche Marktlücke stoßen inzwischen diverse Projekte. Mit viel Publicity wurde vor einiger Zeit das von Werner Sobek in Kooperation mit einem schwäbischen Fertighaushersteller gestaltetete „Aktivhaus B10“ präsentiert. Sobek scheint seit seinem eigenen Stuttgarter Wohnhaus-Würfel „R128“ auf Transparenz abonniert, und so hat auch der komplett präfabrizierte Container B10 eine haushoch verglaste Hauptfront.
Gegen die Sonne schützt das auskragende Flachdach. Doch gegen Einblicke, die an seinem derzeitigen engen Standort am Rande der Stuttgarter Weißenhofsiedlung drohen, muss man schon das Terassendeck mechanisch hochklappen, was dann zugleich für mehr Wärmeschutz sorgt, aber auch den Ausblick verbaut. Sobek denkt indes daran, das B10-Modul zu verschachtelten Geschossbauten aufzustapeln (siehe Bilder Seite 12-13).
Eine noch betuchtere Klientel spricht sicherlich das Fertighaus an, das seit einem Jahr vom Porsche Design Studio angeboten wird. Der auf einer Seite offene Grundmodul ähnelt dem von Sobeks B10, kostet aber von 5000 Euro pro Quadratmeter aufwärts, zumal wenn darunter noch Garagen für die passenden Luxusautos vorgesehen sind. Cool soll der Quader wirken, doch: „Wir legen Wert darauf, dass man sich nicht wie in einem Operationssaal vorkommt“, zitiert die Tageszeitung „Standard“ den Designer Michael Gössl. Wie sich der Einblick ins edle Interieur regulieren lässt, geht aus der Präsentation nicht hervor. Wer sich das Porsche-Haus leistet, muss auch den unverbaubaren Hang dafür finden.
Viele gute Kompromisse
Während Architekten und Container also wohl eine ewige Liaison pflegen und dabei aufgrund der Enge auch der Transparenz frönen werden, gibt es derzeit genügend transparente Bauten, die für einen bestimmten Ort geschaffen wurden und auf ihn flexibel reagieren können. Eine kleine Auswahl:
„Screen“ (Schirm, zugleich aber auch: Bildschirm, der etwas vom Inneren mitteilt) nennen die Münchener Architekten Haack + Höpfner reizvoll zweideutig ihre Lösung für einen transparenten Anbau an ein Siedlungshaus. „Dieser Screen dient als Sicht-, Blend- und Sonnenschutz“, erläutern die Architekten. „Es ergibt sich ein im Tagesverlauf und jahreszeitlich wechselndes grafisches Spiel von Licht und Schatten im Innenraum.“
In den Raum zwischen Glasfassade und Aluminiumkonstruktion wurde im Obergeschoss ein kleiner Balkon integriert, vor dem ein motorisch geregelter Falthebemechanismus die teilweise Öffnung des Screens ermöglicht. Im Erdgeschoss ist der Screen in fünf Felder aufgelöst, von denen die drei mittleren schienengeführt hinter einem Klappfeld geparkt werden können. Auf diese Weise soll die Fassade sich je nach Bedarf öffnen, schließen oder abblenden lassen: „Die puristisch strenge Fassade wird so lebendiges Abbild des Familienlebens im Alltag.“
Ebenfalls für eine Familie, die „mitten in der Natur“ wohnen wollte, bauten die Linzer Architekten Dworschak + Mühlbachler am steilen Hang in St. Magdalena einen Glaskasten, dessen Südfassade sich mithilfe von perforierten Faltelementen je nach Bedarf schließen lässt. Den Passanten bietet sich so abhängig von der Lichtsituation immer ein anderes Bild. Und der Ausblick ist auch bei geschlossenen Läden nicht völlig verstellt.
Transparenz und Transluzenz spielen in einem kleinen, frechen Haus in Esslingen von Finckh Architekten zusammen, das auf Seite 3 abgebildet ist. Während zur Nachbarbebauung opake Polycarbonatplatten lediglich für diffuse Helligkeit sorgen, öffnen sich Berg- und Talseite vollflächig in Glas, das auch bündig in der Fassade sitzt. Das Innenleben lässt sich so nur durch weiße Vorhänge im Inneren gegen neugierige Blicke schützen. „Dieses Wechselspiel zwischen Konstruktion und Hülle, zwischen offenen und geschlossenen sowie transparenten und transluzenten Flächen schafft Raum für das Unerwartete“, meinen die Architekten. „Es bildet sich ein Kosmos aus unterschiedlichen Licht- und Schattenstimmungen, fließend weich und ins Unendliche weitend.“ Und das ausgerechnet im engen schwäbischen Häuslebauer-Milieu!
Intelligenz für mehr Transparenz?
Letztlich gibt es aber auch ganz pragmatische Gründe für die an Häusern um sich greifende Transparenz: Fest verglaste Fassaden kosten heute nicht mehr als reguläre Massivkonstruktionen. Sie dämmen im Prinzip ebenso gut und können sogar dauerhafter und pflegeleichter als jene sein, sofern der Architekt nicht in puristischem Eifer Sonnenschutz und Putzbalkon weggelassen hat.
Dass Energiesparhäuser gläsern seien – diese Idee der Siebziger war ja eigentlich längst ad acta gelegt. Viele Passivhäuser haben heute langweilige Lochfassaden, nur eben fetter. Doch mit aufwendigen Doppelfassaden und ausgeklügelten Lüftungskonzepten sind die „aktiven“ Ökohäuser inzwischen zurückgekehrt. Sie sehen um Welten spaciger aus als die in Bauchemie eingeschweißten, blind mit Kollektoren zugepflasterten Energietresore.
Dennoch ist die Transparenz, wie gesehen, mit Vorsicht zu genießen. Auch und gerade im städtischen Kontext, der ja immer mehr der Standard sein wird, bleibt das Steinzeit-Programm „Höhle“ im Kopf vieler Nutzer aktiv, und wer es nicht ernst nimmt, wird als Architekt mit oft peinlichen „Behelfshöhlen“ konfrontiert werden. Bisweilen werden sogar Möbel vor die als zu groß empfundenen Fenster gerückt.
Es gibt technische Neuerungen wie die phototropen Gläser, die nach dem Vorbild von Sonnenbrillen nachdunkeln – auf Knopfdruck lässt sich hier die Lichttransmission in 20 Minuten elektrisch auf 10 bis15 Prozent reduzieren. Doch sie sind noch viel zu teuer, um die architektonischen Lösungen der Mehrschichtigkeit im Normalfall zu ersetzen. Wenn sie denn kommen, werden uns diese „intelligenten“, aber nackten Glaskisten womöglich schaudern lassen.
So bleibt den Architekten beim Umgang mit Glas wohl nur das überaus spannende Spiel mit den mal filigranen, mal blinden, mal textilen Schichten, die – wie bei der Kleidung – mal verhüllen, mal zeigen, was dahinter ist.
Der anfangs zitierten Maxime von Deckung und Ausblick folgend, wurde Herman Hertzberger bekanntlich zu einem großen Architekten, den seine wohnlich-kommunikativen Räume zwischen drinnen und draußen berühmt machten. Legendär ist sein heute gefährdetes Bürogebäude Centraal Beheer, entstanden von 1968 bis 1972. Es war einerseits unglaublich offen strukturiert, es bot andererseits zugleich zahlreiche Rückzugsbereiche.
Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg)