Text: Roland Stimpel
Zwei Bücher zum gleichen Thema, die zur gleichen Zeit im selben Verlag erscheinen – das riecht nach Doublette. Aber die Bücher sind viel unterschiedlicher als ihre Titel: Eins ist zum Lernen und Nachschlagen, das andere zum Lesen.
Jörg Kurt Grütter hat versucht, alle, wirklich alle denkbaren Arten der Architekturwahrnehmung aufzuschreiben, einzuordnen und zu analysieren. Das Buch ist eine Fundgrube voller Erkenntnisse aus der Psycho- und Neurologie, aus Optik und Akustik, zur Systematik von Formen und Strukturen, aber auch zur Stil- und Raumgeschichte, zur Messbarkeit von Schönheit (siehe den Text auf Seite 24 – 25) oder zur „Geschichte von Bewegung in Kunst und Architektur“. Über das Kernthema Wahrnehmung geht das teilweise weit hinaus; als theoretisches Grundlagenwerk für Studium und Praxis bietet es aber Hintergrundwissen in reichem Umfang.
Während man mit Grütters Werk aufrecht sitzend arbeitet, liest sich Ulf Jonaks Buch gut mit hochgelegten Beinen. Er sammelt, erklärt und katalogisiert nicht, sondern er erzählt Geschichten, und zwar anhand prominenter Bauten: Parthenon und Pantheon, Kölner Dom und Kapelle von Ronchamp, Villa Rotonda und Berliner Philharmonie. Es ist aber keineswegs das 2.000. Buch des Typs „Große Bauwerke aus allen Epochen“. Sondern Jonak erzählt Wahrnehmungs-Geschichten aus eigenem Erleben und Überlieferungen anderer. Sie sind so subjektiv, wie Grütter Wahrnehmungsfragen zu objektivieren versucht. Das Persönliche und zugleich das gesellschaftlich Vorgegebene an der Wahrnehmung ist sein wichtigstes Thema, das immer wieder auftaucht.
Wir „betrachten das Bauwerk, wie wir vermuten, dass andere es betrachten … Es scheint unmöglich zu sein, Objekte objektiv zu betrachten … Wie eine Folie überziehen Fiktionen, Vorstellungen und Vermutungen die Gehäuse … Das Atmosphärische entsteht größtenteils in den Köpfen der Betrachter … Wahrgenommen wird gemeinhin, worauf man schon im Vorhinein festgelegt war … Auch Blicke sind Zeitströmungen und sozialen Übereinkünften… unterworfen.“
Das alles sind keine neuen Erkenntnisse, aber es ist nötig, gerade im Zusammenhang mit Architektur an sie zu erinnern. Niemand kann es sich so wenig leisten wie Architekten, sich in der Entwurfsarbeit nur auf die Eigenwahrnehmung zu verlassen. Gerade Architekten müssen auch die Wahrnehmungen von Menschen berücksichtigen, die ihnen mental und sozial eher fern stehen.
Groß und für den Berufsstand heikel ist die Versuchung, diese fachlich weniger Gebildeten für doof und manipul zu halten. Dieser Versuchung erliegt erstaunlicherweise auch Jonak an zwei Stellen im Buch: „Die Wahrnehmung eines Bauherrn ist oft beeinträchtigt von Vorurteilen, von familiären Formzwängen und gehorcht allzu oft angelesenen, fragwürdigen Empfehlungen von Publikumszeitschriften.“ Das ist ein verbreiteter Seufzer in Jonaks sozialem (Architekten-)Umfeld Aber muss man das so von oben herab ausdrücken, gerade wenn man wie Jonak auch immer wieder die Subjektivität von Expertenmeinungen betont?
Sein zweiter Ausrutscher ist die pauschale Abqualifizierung von Rekonstruktionen als „gefälschte Erinnerungen“. Viele sehen das so, gerade in Jonaks Kollegenkreis. Viele andere aber auch nicht. Auch das ist zum Gutteil sozial und subjektiv bedingt.
Das wird hier aber nicht erwähnt, um den Autor und sein Buch schlechtzumachen. Es ist eine schöne, sehr inspirierende Schrift. Die beiden Stellen seien hier nur zitiert, um seine Warnung zu bestätigen: Niemand möge glauben, die eigene Anschauung der gebauten Welt sei eine allgemeingültige. „Unsere Kunstwahrnehmung ist getrübt und gesteuert von Vorurteilen.“
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