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Ein Schloss und ein Riegel

Ein Münchener Projekt bringt Wohnen und Lernen zusammen – in sehr unterschiedlichen Architekturen

30.10.20157 Min. Kommentar schreiben
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Beton und Weißtanne: Eine Holzverschalung bildet den Hintergrund der Wohnhaus-Fassade; expressive Brüstungen für Balkone und Laubengänge ragen nach vorn.

Text: Christoph Gunßer

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“. zitiert die Initiative Mehrgenerationenplatz München-Südwest eine afrikanische Weisheit, und gestresste Eltern wissen, wie wahr dieses Sprichwort ist. Die Lebenswelt der „Rücksitz-Kids“ von heute zerfällt in viele zusammenhanglose Schauplätze – Entfremdung und Heimatlosigkeit sind die Folge.

Das Projekt ist der Versuch, das Wohnen und das Lernen wieder näher zusammenzubringen. In München-Forstenried, zwischen ziemlich trostlosen Wohn- und Gewerbegebieten, gelang es der Initiative vor drei Jahren, der Stadt einen ehemaligen Festplatz für den Neubau einer freien Waldorfschule abzukaufen. Flankierend zur Schule errichtete die Genossenschaft Wogeno ein großes Wohngebäude, dessen Raumprogramm eng auf Schule und Quartier abgestimmt ist. Von der Kleinstwohnung bis zur WG bietet das Haus einen breiten integrativen Querschnitt.

Nach dem Motto „Sehr viele kleine Räume brauchen sehr gute große Räume“ bietet das Haus zudem beachtliche Gemeinschaftsräume und ist insgesamt kommunikativ angelegt. Schule und Wohngebäude nutzen Synergien: Sie teilen sich Mensa, Werkstätten und ein Blockheizkraftwerk, Schulprojekte sollen insbesondere ältere Bewohner einbeziehen. Doch liegen zwischen den Architekturen Welten, was dem Quartier aber keineswegs schadet.

Steiner und Spätmoderne

Die einzügige Waldorfschule mit angeschlossenem Kinderhaus, eine Eigenplanung nach den Maximen von Rudolf Steiner, ist schon von Weitem leicht zu erkennen: Knallbunt, eingehüllt in sägeraue Bretterschalung von warmem Rot und Blau unter bergendem Satteldach, erinnert sie fast an ein Zirkuszelt, wie es früher hier öfters stand, oder ein Märchenschloss. Die Innenräume sind freundlich altersgerecht gestaltet, es gibt pastellfarbene Räume vielwinkligen Zuschnitts, allein der rechte Winkel ist wie üblich nicht vertreten.

Neben dieser alternativen Farb- und Formenpracht kommt der Wohnungsbau aus der Feder von bogevischs büro sehr viel spröder daher: Als über 130 Meter langer, fünfgeschossiger Riegel schließt er die Westflanke des zwei Hektar großen Areals. Man habe gewusst, dass da mit der Schule ein unruhiger Nachbar auf sie zukomme, berichtet Architekt Rainer Hofmann aus bogevischs büro, und habe dem neuen Quartier einen ruhigen „Rücken“ geben wollen. Die Verschalung aus filigran graubraun vorvergrauter Weißtanne tritt beidseits hinter das kräftige Betonskelett von Balkonen und Laubengängen zurück.

Ein derart rigider Riegel wird sonst rasch als „Groundscraper“ beschimpft – ein im Gegensatz zum Skyscraper in die Horizontale gekipptes Hochhaus. Doch diesen Bau rettet davor die im Grundriss zweimal leicht geknickte Figur. Durch diesen Kunstgriff korrespondiert die Wohnschlange sogar gut mit dem bewegten Nachbarn, bildet „fließende Außenräume“, wie es in der Erläuterung zum Einladungswettbewerb 2011 hieß.

Da in den Knicken etwas ungewöhnliche Raumzuschnitte entstehen, sind dort die meisten Gemeinschaftsbereiche angeordnet: an der spitz zulaufenden Passage im Erdgeschoss ein großer Raum mit Küche, Waschsalon und „Mobilitätsstation“ für die Carsharing-Flotte im Keller. Im dritten und vierten Obergeschoss geräumige Dachterrassen, über die das begrünte oder mit Photovoltaik-Paneelen belegte Dach zugänglich ist. Von dort schweift der Blick über die Baumwipfel bis zu den Alpen.

Hoffnung auf den Laubengang

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Bunt und leicht rund: Waldorfschule und Kindergarten entspringen anthroposophischer Eigenplanung und kommen in bekannter Rudolf-Steiner-Gefälligkeit daher.

Siebzig Wohnungen fanden zwischen den rund dreizehn Meter tiefen Ortbeton-Schotten der Konstruktion im 4,80-Meter-Raster Platz. Sie sind von großer Vielfalt – vom 30-Quadratmeter-Apartment (für ­Gäste) über typische Single- und Familien-Wohnungen und zwei betreute Jugend-Gruppen bis zur 350-Quadratmeter-WG einer Sehbehinderten-Einrichtung. Alle liegen an den schlichten, der Schule zugewandten Laubengängen und Treppenhäusern, und zwar nicht, wie meist üblich, nur mit Eingang und Klofenster, sondern überwiegend mit Wohnräumen.

Dies trägt wesentlich dazu bei, dass der Laubengang nicht nur notwendige Erschließung, sondern Begegnungsraum ist oder werden wird, sobald sich die Bewohnerschaft nähergekommen ist. Kurze Zeit nach Bezug harrten viele der einladenden Ausbuchtungen noch der Möblierung. Als Starthilfe schenkten die Architekten jeder Mietpartei zum Einzug einen neongrünen Blumenkasten. In dieser grellen Farbe wurden im Übrigen auch die Treppenhäuser getüncht. Das mag empfindsamen Waldörflern krass vorkommen – sie stellen rund zwanzig Prozent der Bewohnerschaft.

Nach Auskunft der Genossenschaft verlief die Bewohnerbeteiligung relativ harmonisch, und allgemein ist die Wohnzufriedenheit hoch. An der herben Beton­struktur beginnen Kletterpflanzen zu ranken, und hinter den schicken Blech-Brüstungen von Laubengängen und Balkonen bewegen sich Groß und Klein fast wie Töne auf einem Notenblatt.

Gute Normalmenschen

„Man ist hier nicht mehr allein, darf auch mal stehen bleiben, hinunter in den Hof schauen, hinunterrufen; man fühlt sich aufgehoben“, konstatiert der Architekt zufrieden: „Wichtig ist, dass es Flächen und Räume gibt – physische und soziale –, wo ein Nebeneinander möglich ist.“ Der namensgebende Mehrgenerationenplatz entpuppt sich dabei eher als Kreuzung zwischen Schule und zentralem Gemeinschaftsraum, wo man sich regelmäßig über den Weg läuft, aber auch „Platz nehmen“ kann

Die Genossenschaft bekommt hier für vierzig Prozent der Wohnungen Förderung von der Stadt München, so dass im Haus ein ziemlich repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung wohnt. Klar stünden Genossenschaften wie Baugruppen in dem Ruf, „da wohnen ja nur die Gutmenschen“, doch hat Architekt Hofmann mit der offen-kommunikativen Struktur nur positive Erfahrungen gemacht. Viele „Normalbürger“ merkten, dass sie hier zum selben Preis viel mehr geboten bekommen, und ließen sich gern auf die ungewohnten Wohnformen ein. Wer rechtzeitig dabei war, konnte sogar den eigenen Wohnungsgrundriss mitplanen.

Dank der rationellen Konstruktion lagen die Bauwerkskosten des im KfW-55-Standard errichteten Hauses bei nur 1.750 Euro brutto pro Quadratmeter. Der Ausbaustandard ist solide; beispielsweise gibt es Parkett in allen Wohnungen. Die Holzfenster aber gibt es im ganzen Gebäude nur in zwei Formaten, die für Kinder zum Teil tiefer gesetzt wurden, so dass die Fassaden das mittlerweile typische Bild der „tanzenden Fenster“ abgeben.

Im Wettbewerb hatten die Architekten noch eine Fassade aus Dämmbeton vorgeschlagen, bei der insbesondere die Enden des Riegels ein plastischeres Gesicht bekommen hätten – in Holz ausgefacht, wirkt der Riegel hier sehr rechteckig und auch ein wenig wie abgeschnitten.

Großform im Vorstadt-Nirwana

Auf die Großform angesprochen, die in diesem Kontext zumindest mutig erscheint, verweist Architekt Hofmann auf Vorbilder aus den Siebzigerjahren, etwa von Otto Steidle: „Wohnregal“ oder „Struktur und Füllung“ nannte man damals die Versuche, kostengünstige industrielle Strukturen in partizipativen Prozessen auszubauen. Leider seien diese Experimente durch die bauphysikalischen Zwänge der Energiesparvorgaben unmöglich geworden. Seit etwa zehn Jahren habe sich zudem die „Mode“ (Hofmann) vollends von der Kleinteiligkeit verabschiedet, und mit der Dichte und Glätte der Konstruktionen habe eine neue Hermetik auch im Wohnungsbau Einzug gehalten.

Hier im „städtebaulichen Nirwana“ aber, zwischen Schlichtwohnungsbau und Automeile, findet Hofmann die Großform angemessen. Entstanden sei eine geschützte „Innenwelt“, und eine starke Struktur halte zu erwartende „Zutaten“ der Bewohner am besten aus. Die im Zuge der neuen Hermetik in der Architektur vernachlässigten Schwellenräume zwischen Drinnen und Draußen versuchen die Architekten dabei, wo immer möglich, zu retten.

bogevischs büro hat bereits mehrere bemerkenswerte Wohnbauten für Genossenschaften geplant und schätzt die „unglaublich guten Rahmenbedingungen“ im Vergleich zu kommerziellen Bauherren. Die Münchener wogeno hat als Genossenschaft über zwanzig Jahre Erfahrung mit neuen Wohnformen und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Stadt München den extrem teuren Wohnungsmarkt für Bedürftige abfedert. 20, teilweise sogar 30 bis 40 Prozent städtischer Baugrundstücke werden heutzutage an Baugruppen und (vor allem) an Genossenschaften vergeben.

Das „Dorf“ wird, sofern genügend Spenden eingehen, noch weiter wachsen: Ein Theatersaal soll der Waldorfschule zur Stadt hin ein repräsentativeres Entree geben. Wie sich rings um den Platz das Netz der Generationen entwickelt, dürfte erst nach einiger Zeit sichtbar werden.

24 Muenchen-Buchtipp-Artikel

Gemeinschaftswohnen: Ausstellung und Buch

Bis Ende Februar 2016 stellt das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt 26 realisierte Wohnprojekte von Baugruppen und Genossenschaften aus. Fotos, Pläne, Skizzen und vor allem sehr anschauliche Modelle vermitteln die partizipativen Planungsprozesse, die in zuweilen irritierende, doch durchweg ansehnliche und lebendige Architekturen und Quartiere mündeten. Ein umfangreicher Katalog bietet zusätzlich Hintergründe zu Herkunft, Organisation und Praxis des kooperativen Bauens.

Annette v. Becker u. a. (Hrsg.): Bauen und Wohnen in Gemeinschaft.

Birkhäuser Verlag, im Museum 34,95 Euro, sonst 59,95 Euro (gedruckt oder als E-Book unter www.degruyter.com).

Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg).

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