Text: Frank Maier-Solgk
Was hat der Erker oder dessen englisches Pendant, das „bay window“, mit der Frage zu tun, welches Verhältnis von privat und öffentlich uns und unseren Städten am besten tut? An ihnen lässt sich ablesen, wie, warum und in welche Richtungen die Einstellungen zum Verhältnis von privat und öffentlich sich gewandelt haben. Diese Ansicht vertreten die Dortmunder Architekturprofessoren Wolfgang Sonne und Christoph Mäckler, die gerade erst die 40. Dortmunder Architekturtage dem Thema „Balkon, Loggia und Erker“ veranstaltet haben. Der Blick zurück auf die Geschichte solcher und ähnlicher architektonischer Grundbestandteile ist aus dieser Perspektive kein Selbstzweck; er macht vielmehr deutlich, wo wir heute stehen.
Die durchfensterte Fassadenausbuchtung entstand ursprünglich aus den Schützenständen von Wehrbauten. Sie wirkt oft verspielt und erlaubt den Bewohnern, im 180-Grad-Radius ihre Umgebung zu beobachten. Damit ist der Erker nicht nur ein serielles Element von Straßenraumbildern, kein dekorativ-überflüssiger Schnörkel und auch kein Attribut des Spießbürgers. Sondern er ist nach Ansicht Wolfgang Sonnes Ausdruck eines höchst durchdachten Verhältnisses von privatem und öffentlichem Raum. Er fungiert in seiner vorsichtigen Öffnung als verbindendes Glied, als Schwelle und Zwischenraum, der dem Bedürfnis nach Überblick ebenso gerecht wird wie dem nach Privatheit und Schutz. Dagegen wird der offenere, vielseitig einsehbare Balkon, der auf die Straße blickt, selten dem Bedürfnis nach Rückzug und privater Abgeschlossenheit gerecht.
Doch Balkon wie Erker, so der Stuttgarter Architekt Arno Lederer, sind „Verweilorte“, architektonische Umsetzungen des „Prinzips der Weile“, die in zeitlicher Hinsicht zwischen der Eile der Straße und der Ruhe des Innenraums stehen – in heutigen Zeiten ein Luxus. Erker und Balkon an ihrer Schnittstelle zwischen innen und außen zeigen, wie sich privater und öffentlicher Bereich nach Auffassung ihrer Bauherren zueinander verhalten sollen. Ein in Dortmund geäußerter Befund lautet: Dem Privaten wurde früher größere Bedeutung zugemessen. Doch sind die Verhältnisse wohl in den 1960er- und 1970er-Jahren durcheinander geraten. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hatte damals die Theorie für eine generelle Verdrängung des Öffentlichen geliefert (The Fall of Public Man), die er psychologisch mit dem Begriff einer „Intimisierung“ zu erklären suchte. Seitdem ist das Thema gesellschaftspolitisch sozusagen aufgeladen und zum Kampfplatz der Ideologien und politischen Dogmen geraten.
Das gilt für den traditionell öffentlichen Raum, aber auch für die Privatsphäre und ihren schleichenden Verlust. Architektonisch lässt sich die Verdrängung des Privaten bis in die 1960er- oder 1970er-Jahre zurückverfolgen, als Großsiedlungen, zeilenförmige Wohnblöcke und Punkthochhäuser durch ihre schiere Größe anonyme Problemzonen schufen und zugleich die vielen alten Innenhöfe in den Innenbereichen größerer Blockrandquartiere und damit größere zusammenhängende „halbprivate“ Zonen zum Verschwinden brachten. Auch im heutigen Wohnungsbau sind Balkone oft zum von vielen Seiten einsehbaren Freiraum degradiert. Balkonlandschaften in Neubauvierteln wie der City-West in Frankfurt am Main sind nur ein Beispiel von vielen.
Auch auf der Architekturbiennale 2014 in Venedig hat Rem Kolhaas die „Fundamentals“ des Bauens unter die Lupe genommen: Fenster, Balkon, Wand, Treppe, Rampe und andere. Der Alltag stand im Mittelpunkt, nicht mehr Utopien. In Venedig war aber auch zu studieren, welche politische und gesellschaftliche Bedeutung einem Bauelement wie dem Balkon zukommen konnte: Von den Päpsten und Muezzins bis zu den Hitlers und Stalins, von den Windsors in London bis zu den Fußballern des FC Bayern dienten und dienen sie als Präsentations-, als Inszenierungsort der Macht. Von ihnen aus ließen sich Revolutionen und Kriege stimulieren, Monarchien festigen und Hochzeiten feiern. Balkone stellen nicht nur im metaphorischen Sinn ein überaus sprechendes Moment der Architektur dar; sie sind auch im fast wörtlichen Sinn ein Instrument der Kommunikation.
Eine der schwierigsten Bauaufgaben
Zurück zum historischen Alltag: Da gab es in Paris die dekorativen gusseisernen Balkone an Haussmann’schen Fassaden. Es gab die Loggia-artigen Balkone von Sanatorien, auf denen die Genesung bei frischer Luft ermöglicht wurde. Und es gab die Wohnbalkonen, die seit den 1920er-Jahren dem Motto des „befreiten Wohnens“ (Sigfried Giedeon) folgten – dem sozialen und sozialdemokratischen Ideal einer Verbesserung der Wohnsituation für breite Bevölkerungsschichten.
Heute hat die Bauaufgabe der Schwellen zwischen innen und außen gerade im Wohnungsbau erheblich an Komplexität zugenommen. Architekten, die auf der Dortmunder Tagung von ihren Projekten berichteten, illustrierten vor allem ein Dilemma: Einerseits sind Balkone mehr als bisher begehrte Freiräume oder gar Miniaturgärten und mit Licht, Luft und Fernblick gesegnet. Wohnungen ohne Balkone sind nicht mehr teuer vermietbar oder verkäuflich. Andererseits sind Balkone nach Ansicht des Baseler Architekten Ingemar Vollenweider sowohl ein Problem für jede wärmegedämmte Hülle als auch für eine „ganzheitliche Erscheinung des architektonischen Körpers“. Es gebe gar die Überlegung, sie ungeachtet der jeweiligen Aufenthalts- und Aussichtsqualität auf der Hausrückseite zu verstecken. „Der Balkon ist heute eine der schwierigsten Bauaufgaben“, meint Vollenweider. Auch für den Münchner Architekten Andreas Hild wirft er Probleme auf: Einerseits sollen Balkone eine größere Tiefe besitzen, andererseits die Fassade und den Stadtraum möglichst wenig beeinträchtigen. Vorgestellte Balkongerüste seien in puncto Fassadenwirkung nicht vertretbar.
Ein ganz anderer Trend herrscht an neuen hochwertigen Wohnhochhäusern in Großstädten vor: Hier gibt es verschiedenste Kombinationen und Varianten der Vermittlung oder der Verzahnung der Straßenräume mit dem Vorraum des Hauses – etwa durch durchlaufende Loggien, durch Eckloggien, durch ganze Terrassenlandschaften oder, wie im Fall des neuen Henninger Turms in Frankfurt von Meixner, Schlüter, Wendt Architekten, durch eine Kombination von Wintergarten und Balkon. Er wird mehr als sonst üblich zum einheitlichen, kompakt-plastischen Fassadenbestandteil.
Frank Maier-Solgk ist Publizist zu Architektur- und Kulturthemen und lebt in Düsseldorf