Text: Frank Maier-Solgk
Marl? Wer außer Kennern der Nachkriegs-Architektur kennt außerhalb des Ruhrgebiets Marl – eine Mittelstadt von etwa 85.000 Einwohnern und nach wie vor ein wichtiger Industriestandort? Zuletzt machte die Stadt kurz vor Jahresende von sich reden – nicht gerade mit einer Erfolgsmeldung: Am 18. Dezember 2015 verabschiedete sich mit der Schließung der Auguste-Victoria-Zeche erneut ein gewichtiges Stück des deutschen Steinkohlebergbaus, der 115 Jahre lang die Gegend geprägt und für Arbeitsplätze gesorgt hatte. Nun geht es, wie schon so häufig, um Nach- und Umnutzung, um Strukturwandel, vor allem darum, neue Perspektiven für die Menschen zu schaffen. Ein Neubeginn aber ist nicht nur für das Zechengelände selbst nötig; die Stadt muss keine 80 Jahre nach ihrer Gründung grundlegend erneuert werden.
Marl ist eine stadtplanerische Seltenheit. Die Stadt wurde Ende der 1930er Jahre durch Zusammenschluss mehrerer Gemeinden gegründet und in weiten Teilen nach dem Krieg am Reißbrett entworfen. Von 1945 bis 1975 verdoppelte sich die Einwohnerzahl von 45.000 auf mehr als 90.000. Noch heute prägen die 1960er- und 1970er-Jahre das Gesicht – mit all den lange schon in die Jahre gekommenen städtebaulichen Ideen, mit deren Folgen man sich bis heute allenthalben herumschlägt. In Marl setzte man die Ideen der locker bebauten, verkehrsgerechten, vor allem Wohnen und Arbeiten trennenden Stadt in einer konzeptionellen Rigidität durch, die ihresgleichen sucht. Noch heute lässt sich das nur wenig veränderte Konzept studieren. Es gibt Perlen wie die Schule von Hans Scharoun und die vier Hügelhäuser von Hermann Schröder, zu denen der „Spiegel“ nach Fertigstellung des ersten im Jahr 1967 schrieb: „Treppenartig zu einer Pyramide ansteigend, nimmt sich das Gebäude aus wie ein Tempel der Mayas.“ Verstreut an den Rändern der Stadt liegen die Chemie- und Kohleareale. Eine historische Mitte fehlte; stattdessen entwarf man in den frühen 1960er-Jahren eine von breiten Verkehrsringen umschlossene Mitte als locker bebautes Areal.
Problematischer Nachlass
Schon vor gut zehn Jahren wurden mehrere berüchtigte Hochhausblocks abgebrochen. Jetzt dominieren noch zwei jener endlos gestreckten, zehn- bis zwölfstöckigen Wohnblockanlagen das Blickfeld, deren bauliche wie soziale Problematik unschwer erkennbar ist. Sie tragen die fast anonymen Namen „Wohnen West“ und „Wohnen Ost“. Dergleichen könnte in den Banlieues von Paris oder Marseille stehen. Dazwischen liegen als Verbindungsglied offene Parkhäuser und mit dem sogenannten „Marler Stern“ mit 58.000 Quadratmetern eines der größten innerstädtischen Shoppingcenter in Nordrhein-Westfalen – lange vor dem großen Center-Boom bereits im Jahr 1974 eröffnet, noch heute mit Deutschlands größtem Luftkissendach versehen, aber von wachsendem Leerstand geprägt.
Davor breiten sich eine Fußgängerpromenade, ein künstlich angelegter See und ein ausgedehnter, mit Waschbetonplatten belegter und von modernen Skulpturen bevölkerter Platz aus, auf dem sich schließlich auch eine der architektonischen Sehenswürdigkeiten der Stadt erhebt: der als Stadtkrone konzipierte und von zwei Doppeltürmen überragte Rathauskomplex der beiden niederländischen Architekten van den Broek/Bakema. Im Wettbewerb des Jahres 1958 galten diese ersten beiden Hängehochhäuser Deutschlands mit ihrer vorgehängten Fassade als kühne Konstruktion und technisch anspruchsvolles Novum, das ganze Rathausensemble als ein demokratischer Symbolbau und „Inbegriff demokratisch-bürgerlicher Selbstverantwortung“, der als Klammer der heterogenen Stadtelemente wirken sollte. Darüber hinaus hatte man mit dem Skulpturenmuseum „Glaskasten“ im Erdgeschoss und den über 100 über die Innenstadt verteilten Großskulpturen die Idee von Kunst im öffentlichen Raum zum ersten Mal in umfassender Weise realisiert.
Wenig später bereits erwies sich der Rathausbau, vor allem dessen beide Türme, den Witterungseinflüssen gegenüber als nicht robust genug. Das von Architekturhistorikern nach wie vor hochgeschätzte Epochensymbol wurde zunehmend zum sanierungsbedürftigen Problemfall. Die Statik erforderte nachträgliche Verstärkungen, und fehlende Wärmedämmung, veraltete Technik sowie eine überholte Raumaufteilung genügen schon lange nicht mehr den aktuellen Ansprüchen. Diskussionen über Abriss oder Sanierung beschäftigten den Rat der Stadt über Jahre; so lange bremste Marl auch den Schutz als Baudenkmal. Erst vor wenigen Wochen gelang er. Und nachdem ein externes Gutachten höhere Kosten für die Neubaualternative als die für die Sanierung veranschlagten 40 Millionen Euro attestierte, soll nun Letztere stattfinden.
Für sie stehen nicht zuletzt Zuschüsse „im hohen einstelligen Millionenbereich“ aus den aktuellen Förderprogrammen „Soziale Stadt“ oder „Stadtumbau West“ in Aussicht. Die Rathaus-Sanierung ist integriert in ein umfassendes Stadtumbauvorhaben: 2015 hat man in einem breit angelegten Verfahren, bei dem in Form einer Reihe von Bürgerdialogen auch die Bevölkerung einbezogen wurde, ein umfassendes „integriertes“ Erneuerungsprogramm für das Stadtzentrum beschlossen. Neben der Sanierung des Rathauses geht es um Nachfolgenutzungen noch brachliegender Flächen, um Verbesserungen im Umfeld des Einkaufszentrums „Marler Stern“ und des Hochhauses „Wohnen Ost“ sowie um die „Förderung nachbarschaftlicher und sozialer Strukturen“.
„Verdichtung und eine vielfältigere Nutzung“ und eine „vielfältigere, lebendige Stadt der kurzen Wege“ stehen als Ziele bei Markus Schaffrath, dem neuen Leiter des städtischen Planungsamtes, ganz oben. Ob dies allerdings reicht, ob Umfeldverbesserungen und soziale Maßnahmen das Bild der Stadtmitte entscheidend werden ändern können, ist nicht sicher. Grundlegende bauliche Erneuerungen scheinen hier wohl doch unvermeidlich. Zu dominierend in ihrer großformatigen Wucht, aber auch zu dominierend in ihrer derzeitigen sozialen Zusammensetzung mit hohem Migrantenanteil sind die beiden Hochhaus-Wohnscheiben. Hier, so Markus Schaffrath, sei schon wegen der zersplitterten Besitzverhältnisse der Eigentums-Wohnanlagen eine Erneuerung sehr schwierig.
Auch die Unterbringung eines Teils der aktuell rund 1.500 Flüchtlinge im Zentrum trägt nach Ansicht des Marler Planungschefs nicht dazu bei, eine städtebauliche Komplettlösung voranzubringen.
Das Konzept Stadtmitte ist nur der erste, vorrangige Teil der geplanten Stadterneuerung. Auf rund 20 Jahre angelegt, schließen sich Neuüberlegungen zur engeren Verzahnung der weit auseinandergezogenen Ortsteile an. Auch über Freizeitangebote und die Gastronomie könnte man sich Gedanken machen. Ausgehen tut man in Marl, wie es heißt, eigentlich nicht, man fährt in die Nachbarstädte, zumeist nach Recklinghausen. Einen architektonischen Sanierungs-Erfolg kann man immerhin im Stadtteil Drewer feiern: Hier hat man im Sommer 2015 die denkmalgerechte Sanierung von Hans Scharouns berühmter, 1964 begonnener Grundschule abschließen können und so eines der wenigen Beispiele des „organhaften Bauens“ in Deutschland gerettet.
Blumen für Marl
„Les fleurs du mal“ – die Blumen des Bösen – steht in großen weißen Leuchtbuchstaben an der oberen Fassadenkante des Rathauses, über dem 1982 eröffneten Skulpturenmuseum und der Freitreppe zum Standesamt. Die Worte, die den Titel des berühmten Gedichtzyklus von Baudelaire mit dem Wortspiel Blumen für Marl verknüpfen, sind eine Installation des Lichtkünstlers Mischa Kuball, der seine Arbeit als Aufforderung an die Bürger der Stadt Marl zur Teilhaben verstanden wissen will. In eine Betonvase am Fuß der Freitreppe zum Standesamt kann man denn auch partizipativ Blumen stellen. Hintergrund auch für diese Aktion ist die in Marl unternommene Demokratisierung der Kunst, die zum „Alleinstellungsmerkmal der Stadt“ gehört und daher Teil des Erneuerungskonzepts ist.
Eine Million Euro will man in die Kunst im öffentlichen Raum investieren. Ob daraus wieder urbane Blumen oder Schattengewächse des Niedergangs werden, wird sich wohl frühestens in einem Jahrzehnt herausstellen.
Frank Maier-Solgk ist Publizist zu Architektur- und Kulturthemen und lebt in Düsseldorf
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