Text: Gerold Reker
Der öffentliche Raum gehört zur europäischen Stadt: Hier hat die Bürgergesellschaft ihre Rechte entdeckt und erkämpft. Ohne die soziale Kontrolle und Geborgenheit des Dörflichen ist er Opposition zum individuellen Entfaltungsraum der eigenen Wohnung und Sinnbild der Unübersichtlichkeit und Namenlosigkeit der Stadt – im Negativen, aber auch im Positiven: Stadtluft macht frei!
Gilt das noch? Der Wandel ist spürbar. Gegenläufige Entwicklungen von Wachstum und Schrumpfen, die Segregation in Milieus, Subkulturen und Schichten sowie kulturelle Vielfalt bis zur Ausgrenzung prekärer Minderheiten untergraben das Verständnis vom gemeinschaftlich Offenen, vom Freiraum für die ganze Gesellschaft. Die Verwahrlosung öffentlicher Räume wird dabei zum Anzeiger für soziale Gegensätzlichkeit und misslungene Einbindung.
Fortschrittliche, technologische Neuerungen werden den öffentlichen Raum neu bestimmen. Modernisierungsprozesse, Rationalisierung und Individualisierung gelten neben dem zunehmenden Einfluss der neuen Technologien als mitursächlich für den Verlust des Städtischen. Neue Formen der Kommunikation infolge sich ändernder Lebensstile lassen den realen öffentlichen Raum gegenüber dem digitalen für das gesellschaftliche und soziale Leben an Bedeutung verlieren. Teleshopping, ausgelagerte Dienstleistungszentren, Homebanking, Heimarbeitsplatz: Werden wir alle zu Autisten? Wer unterhält die Stadt, wenn der gesellschaftliche Diskurs in die digitale Welt abwandert? Werden attraktive, neue Räume in virtuellen Welten entstehen?
Bei der Frage nach dem öffentlichen Raum geht es nicht allein um Leitlinien für Gebrauch und Gestaltung, auch nicht um die Wunschvorstellung einer einwandfreien und ausnahmslosen Planbarkeit. Es geht um Annahmen für soziale und ästhetische Qualität, es geht um das möglichst Richtige, das im öffentlichen Raum mit Anliegern, Nutzern und der Öffentlichkeit herauszuarbeiten ist. Im öffentlichen Raum stellt sich eine gesellschaftliche Frage, keine gestalterische. Der öffentliche Raum rührt an den Kern des Städtischen.
Denn die positive oder negative Lesbarkeit einer Stadt ist und bleibt das A und O ihrer Akzeptanz. Die neue Lesbarkeit wird sich nicht mehr allein an ökonomischen Logiken festmachen, sondern an zeitgemäßen Formen der Teilhabe, der Mitbestimmung und des Zusammenlebens. Die Gesellschaft ist aufgerufen, selbst zu denken, selbst zu machen, selbst zu handeln, selbst zu teilen. Vielleicht werden neue Mikrokosmen entstehen, die eine stückweise Befreiung von intransparenten, globalen Wirtschafts- und Machtkreisläufen denkbar machen, ohne sich gänzlich aus diesen auszuklinken. Die Rückeroberung des Gemeinsamen und des Zusammenlebens und -arbeitens ist damit verbunden. Kulturpraktiken können zu Denk- und Handlungsräumen werden, wobei das Verhältnis vom digitalen zum physischen Raum erst noch zu verhandeln ist. Darin liegt eine Chance, jenseits nostalgischer Abgesänge.
Wobei wir wieder an der Stelle wären, als Öffentlichkeit der Bereich gesellschaftlichen Lebens war, in dem Menschen im Idealfall in einer öffentlichen Debatte Fragen besprachen, die mit politischen Vorgehensweisen gelöst werden sollten. Also eigentlich nichts Neues.
Gerold Reker, Präsident der Architektenkammer Rheinland-Pfalz
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