Fast achtzig Zentimeter misst die zweischalige Außenwand des Bürogebäudes 2226 von Baumschlager Eberle Architekten in Lustenau im Vorarlberger Architektur-Eldorado. In jedem Geschoss nimmt die Außenwand somit rund 13 Prozent der Bruttofläche in Anspruch – gerundet sind das etwa 73 von 560 Quadratmetern. Das innere Mauerwerk übernimmt statische Funktion, während die äußeren Ziegelsteine den weißen Würfel dämmen. Zusammen speichern die beiden miteinander verzahnten Schalen die Energie in der Lochfassade und tragen maßgeblich dazu bei, dass das energetische Konzept nahezu ohne Gebäudetechnik auskommt. Zumindest, wenn man die ausgeklügelte Gebäudeautomation und die motorisch betriebenen Fenster nicht dazu zählt.
Ziegelwände statt zusätzlicher Dämmung
Das ist ein Gegenentwurf zu den üppig gedämmten Passivhäusern, deren Tragkonstruktion sowohl massiv als auch in Leichtbauweise üblich ist, jedoch in der Regel deutlich schlanker ausfällt. Beide Konzepte kommen ohne Heizung aus. In Vorarlberg erwärmen Menschen, Geräte und – wenn sie denn scheint – die Sonne den Kubus. Dem klassischen Passivhaus genügt die Sonne und eine Luftheizung, um die zehn W/m2 Heizleistung aufzubringen. Andere Konzepte kombinieren den Wärmeschutz mit viel mehr Technik, zum Beispiel das Aktiv-Stadthaus in Frankfurt von Hegger Hegger Schleiff oder das sanierte Wohnhochhaus in Pforzheim von Freivogel Architekten. Auch ein Sonnenhaus, das sich basierend auf Sokrates ’ Überlegungen in der griechischen Antike aus der aktiv und passiv gewonnenen Solarenergie speist, kommt nur mit Gebäudetechnik übers Jahr.
Klimawandel gegen historische Errungenschaften der Statik
Da haben sich nun die Baumeister über Jahrtausende an der Statik abgearbeitet, um die meterdicken Wände durch Experimente, Berechnungen, konstruktive Tricks und neue Baumaterialien zu verschlanken, was uns kunstvolle und feingliedrige Architektur von der Gotik bis zur Bauhaus-Ära im letzten Jahrhundert bescherte. Doch nun verkehren Klimawandel und die Rohstoffknappheit den Auflösungsprozess der baulichen Materialität ins Gegenteil. Vorbei scheint die Zeit der über die Laufstege internationaler Architekturwettbewerbe schwebenden Hungerhaken, deren Schönheit, Transparenz und Grazilität über Wärmebrücken und den vergessenen sommerlichen Wärmeschutz hinwegtäuschen.
Wärmeschutz verlagert sich aufs Energiesparen
Der Wärmeschutz verlagerte sich nach der Jahrtausendwende mit der Einführung der EnEV aufs Energiesparen, was nicht nur zusätzliche Anstrengungen bei der Gebäudehülle erforderte, sondern deren Effizienz in Relation zur Gebäudetechnik setzte. Ein vernünftiger Ansatz, denn was nützt die beste Hülle, wenn im Heizkeller ein museumsreifer Kessel die fossilen Energieträger stumpf in sich hinein frisst?
Das war die eigentliche Geburtsstunde der energetischen Gebäudekonzepte, von der die Passivhauspioniere in den 1990er-Jahren bereits kundtaten. Begleitet vom Siegeszug der Dämmstoffe, mit dem Ergebnis, dass die Laibungen heutiger Energiesparhäuser – die nun Effizienzhäuser heißen – wieder so tief sind wie die Schießscharten mittelalterlicher Burgen. Wir sind wieder bei Dicken von über einem halben Meter – zumindest bei Außenwänden
Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Sie klingen heute hohl, sind auch hohl beziehungsweise mit Fasern, Styropor oder Flocken ausgestopft. Egal ob einschalig, zweischalig oder noch mehr schalig: An irgendeiner Stelle findet sich eine dämmende Schicht, ein dämmender Zusatz, eine dämmende Füllung.
Energieautark nur auf dem Papier
Manche garnieren ihr Werk mit mehr oder weniger Gebäudetechnik und prahlen bilanziell übers Jahr gesehen von einem autarken „Plusenergiehaus“. Tatsächlich aber wären sie nur autark, unabhängig und nachhaltig, ja …, wenn sich der bilanzielle Energieüberschuss aus der von der Sommersonne verwöhnten Solarthermie- und PV-Anlage in den trüben und kalten Winter retten ließe. Da liegt der Hase im Pfeffer! Denn mit der vermeintlichen Autarkie ist es nicht weit her, wenn man das Stromnetz des Versorgers braucht, um dorthin den Solarstromüberschuss zu leiten. Wogegen Strom im Winter fehlt, um damit den Heizstab in der Wärmepumpe anzutreiben, weil deren Jahresarbeitszahl zu niedrig ist, um in der Heizperiode für Warmwasser in Dusche und Flächenheizung zu sorgen. Was wird bei Hülle und Technik oft für ein Aufwand betrieben, um diese scheinbare Autarkie ins Feld führen zu können!
Dämmung ist der Schlüssel
Am Ende hängt der Erfolg der energetischen Effizienz doch maßgeblich vom Dämmstandard und der Speicherfähigkeit ab. Im Prinzip basiert somit jede Strategie auf dem wichtigsten Baustein des Passivhauses: einer ausreichenden, an Nutzung und Gebäudetechnik ausgerichteten Dämmung. Kein Gebäude ist wirklich autark, das zwar ganzjährig mehr Energie erzeugt als es verbraucht, das aber das Netz des Versorgers in Anspruch nimmt – mal zum Abgeben, mal zum Aufnehmen von Strom.
Und wo bleibt die Architektur?
So oder so mühen wir BIM-geplagten Architekten uns ab, um den per Verordnung ausgegebenen Höchstwert beim Jahres-Primärenergiebedarf und die maximal zulässigen Wärmeverluste nicht zu überschreiten. Dazu befähigte Ingenieure und Experten füttern eine Software und manchmal sogar eine Gebäudesimulation mit unzähligen Kennwerten, Annahmen und Parametern, um die Primärenergiefaktoren, Transmissionswärmeverluste, U-Werte der Bauteile, Wärmebrückeneinflüsse, solaren Gewinne und Leistungszahlen der Anlagentechnik gegeneinander aufzurechnen, ihren Anteil am gesamten energetischen Konzept zu optimieren und auf die Architektur auszurichten. Ha! Da war sie …, ganz am Schluss! Nicht bemerkt? Die Architektur? Ja doch, es gibt sie noch!
Wir Architekten geben immer noch die Gestaltung vor, wir bringen Funktion, Komfort und Ästhetik in Einklang, kombinieren Materialien, erarbeiten Lösungen für Philosophien, wägen ab zwischen Kosten und Nutzen, lösen Details und setzen Akzente. Nicht zu vergessen der Schall-, Feuchte- und Brandschutz. Und wir planen natürlich den Wärmeschutz und – auch nicht ganz neu – sorgen für die Nachhaltigkeit.
Nicht abmagern und nicht anfüttern
Welches energetische Ziel man auch im Fokus hat, was für ein Gebäude- und Anlagenkonzept man auch anstrebt – der Wärmeschutz der Hülle ist der entscheidende Faktor. Ein Effizienzhaus, ein Aktivplushaus, ein Passivhaus, ein Sonnenhaus haben alle eines gemeinsam: eine luftdichte und gut wärmedämmende Außenhaut ohne störende Wärmebrücken.
Ebenso wichtig ist die weitestgehend regenerative Energieversorgung. Auch Fassadenflächen sind dafür nutzbar. Wir sollten den Außenwänden keine bauphysikalisch ungesunde Abmagerungs-Diät verordnen, aber sie auch nicht mit Materialien anfüttern, die sie nur um des Speicherns willen auf adipöse Burgmauern anschwellen lassen. Auch müssen wir Architekten aufpassen, uns nicht in energetischen Konzepten und Bilanzen zu verirren, die oft nur auf dem Papier oder im Berechnungsprogramm den Nachweis der Nachhaltigkeit oder gar Autarkie erbringen.
Zu viel Technik macht das Haus nervös
Je mehr Technologie in einem Gebäude installiert wird und das energetische Konzept stützt, umso nervöser verhält sich das Gebäude, wenn die Randparameter nicht mit den Annahmen übereinstimmen. Je weniger Technik die Funktion eines Gebäudes bestimmt, umso sicherer muss man sein, dass die Basis – sprich: die Qualität der Hülle – stabil ist und nicht von extremen klimatischen Phasen und erheblich schwankenden internen Lasten aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Häufig ist zu hören, dass die Belegung und die Computer das Klima im Gebäude regulieren. Sind aber hundert anstatt zehn Personen im Raum, kann die angenehme Atmosphäre schnell ins Gegenteil kippen.
Ebenso am Montagmorgen, wenn das Gebäude das ganze Wochenende leer stand und mangels interner Lasten ausgekühlt ist. Konzepte, die für Wohnungen passen, können ein Bürogebäude unkomfortabel machen. Und umgekehrt. Ebenso verhält es sich bei der Frage nach dicken oder dünnen Wänden, Zweifach- oder Dreifach-Verglasungen, transparenten oder opaken Fassadenflächen. Es spielen viele Faktoren eine Rolle: das regionale Klima, die Windbelastung, die Nutzung, die verfügbaren Flächen, das energetische und gebäudetechnische Konzept. Und natürlich und vor allem die Architektur.
Die Gebäudehülle und ihre Dämmung bestimmen die Effizienz
Es gibt nicht das energetische Gebäudekonzept. Anlagentechnik kann sehr unterstützend wirken, Dämmung ist nicht per se zweite Wahl, und 80 Zentimeter dicke Ziegelwände können auch im 21. Jahrhundert ihre Berechtigung haben – wenn der Platz dafür da ist. Zu bedenken ist sowohl beim Passivhaus wie auch im Haus ganz ohne Heizung, dass Nutzer manchmal mehr frieren, als dass sie als strategische „interne Last“ mithelfen, ein Gebäude aufzuheizen. Und dass die Sonne gerade im Sommer manchmal viel mehr Wärmeenergie liefert, als dem Angestellten oder Bewohner gerade lieb ist.
Die Strategie für das optimale energetische Gebäudekonzept darf sich daher nicht allzu einseitig auf das Streben nach dem Nullenergiebedarf fokussieren. Dogmen haben dabei nichts verloren. Erfahrung gibt Sicherheit. Und Denken hilft nicht Trends zu erliegen, die sich oft schneller überholt haben, als das Gebäude in Würde altert. Die Hülle ist nicht so einfach austauschbar wie die darin installierte Technik. Gleiches gilt für die Architektur allgemein. Dies sollte bei jedem energetischen Konzept Basis aller Überlegungen sein. Nur dann gehen Strategie, Architektur und auch die Nutzer gemeinsam und nachhaltig durch dick und dünn.
Claudia Siegele ist Baufachjournalistin und Architektin sowie Mitbegründerin von frei04 publizistik in Ubstadt-Weiher bei Karlsruhe
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