Text: Christoph Gunßer
Manche finden sie nur noch auf dem Klo, dem „stillen Örtchen“, wie man früher sagte. Oder unter dicken Kopfhörern. Bald vielleicht in der Virtual Reality zum Überstülpen, denn auch visuell geht es oft sehr „laut“ zu. Stille ist, alle beklagen es, ein knappes Gut. In unserer brummenden, plappernden, plärrenden, kurz: besinnungslosen Lebenswelt ist sie kaum noch zu finden. Ein Lärmteppich liegt überm Land, fast lückenlos.
Viele Menschen wollen sich damit nicht abfinden. Sie fordern Rückzugsräume, Oasen der Besinnung. So wie der Kühlschrank stets kühlt, soll es einen Raum im Haus geben, der immer still ist. Geht das? Und wie still ist richtig? Denn vollkommen schalltote Räume schaffen Angst statt Beruhigung. Wie gelingt es Räumen, dass es auch im Kopf still wird? Nicht wenige fürchten die äußere Reizlosigkeit, weil es dann in ihnen drin erst richtig losgeht mit der Unruhe. Welche Reize fördern die innere Ruhe?
Rituale der Besinnung sind zudem stark kulturell geprägt. Die Gebetsräume für Muslime folgen anderen Regeln als christliche, zum Beispiel verlangen sie die Trennung der Geschlechter. An der TU Dortmund setzten Muslime in den Raum eine Trennwand – worauf andere protestierten und die Hochschulleitung den Raum schloss.
Von der mancherorts mühsam errungenen Ökumene zu Multikulti führt ein Weg, der im Universellen enden kann, etwa in der Verwendung der Elemente Licht und Wasser bei der Gestaltung, aber auch im Beliebigen. Langer Rede kurzer Sinn: „Es ist kompliziert“, wie Facebook häufig beim Beziehungsstatus vermerkt. Da ist die Architektur gefragt, mit ihrem ganzen Instrumentarium. Aber sie sollte unauffällig und gelassen sein – allen wird man es eh nicht recht machen.
Eine kleine Übersicht über bestehende „Räume der Stille“ lässt sich architektonisch grob dreiteilen: die Höhlen, die Abstrakten und die Naturnahen.
Wege zur Stille
Die Höhlenbauer sind eindeutig in der Mehrheit. Sie zielen auf Geborgenheit, manchmal nicht ohne regressive Züge. Die Erinnerung an die vorbewusste Zeit im Mutterleib mag Urvertrauen wecken, Ruhe ausstrahlen, je nach Prägung aber auch Enge und Gefangensein.
Eine sehr subtile und helle Höhle ist Vehovar & Jauslin aus Zürich im Evangelischen Tagungszentrum Boldern-Männedorf in der Schweiz gelungen. Sie führen „in eine reduzierte, intime Innenwelt“. Die Architekten schreiben weiter: „Es ist eine Reise zu sich selbst. Fließende Übergänge führen in einen meditativen Raum und wieder hinaus in die Natur, auf einen abgeschirmten, besonnten Kiesplatz. Das Haus kennt keine fixen Grenzen. Offen und geschützt wechseln sich fast unmerklich ab, um den Gedanken freien Lauf zu lassen.“ Frei ist der Bau auch von expliziten religiösen Symbolen: Erde und Himmel verbinden sich in der von Oberlichtbändern durchbrochenen Sichtbetonschnecke abstrakt und harmonisch. Der Bau versteht sich trotz seines evangelischen Bauherrn als überkonfessionell und steht allen Seminarteilnehmern offen.
Einkehr unterwegs
Als „Tankstellen der Seele“ werden manchmal Autobahnkirchen zweideutig bezeichnet. Zwei sind unlängst neu entstanden. Sie werden in der Regel ökumenisch getragen und verzichten zwar nicht ganz auf christliche Symbolik, verstehen sich aber als Angebot für alle Ruhebedürftigen, von denen es gerade unter den Reisenden viele gibt.
Die Autobahnkirche an der A 71 bei Bibra in Thüringen ist nahe der einstigen innerdeutschen Grenze wie eine Flurkapelle im Gelände platziert. Architekt war Wolfgang Paulisch, Künstler Gernot Ehrsam. Die Kirche folgt einer ähnlichen Embryonalbewegung wie das zuvor genannte Projekt. „Es entsteht der Eindruck einer zirkulierenden, sich nach oben öffnenden Form“, schreiben die Autoren. „Das Überwinden von äußeren und inneren Grenzen spiegelt sich in dem Bauwerk wider. Erstarrte und zirkulierende Bewegung werden durch die Architektur versinnbildlicht.“
Die Autobahnkirche an der A 45 am Rasthof Siegerland der Architekten schneider+schumacher ist nur im Inneren Höhle: Ein raffiniert verschachteltes, natürlich belassenes Holztragwerk wölbt sich über dem Rundraum, in den nur durch zwei Türme Licht fällt. Außen spielt die Kirche mit dem Bild historischer Kirchen, indem sie, ganz in Weiß, zwei spitze Türme übers Tal reckt. Sie sind einzig auf den Rückseiten verglast, um das effektvolle Himmelslicht einzufangen. Die unschuldige Skulptur steht hier im starken Kontrast zum banalen Schilderwald der Raststätte.
Das Haus der Stille mit interkulturellem Begegnungsraum am neuen Campus Westend in Frankfurt ist ein Werk der Architekten Karl + Probst. Es ist eine rundliche Holzskulptur vor einem sehr eckigen Studentenwohnheim uind ein Zufluchtsangebot für alle, bezahlt von der Universität. Die Höhle ist zweigeschossig; dem Wunsch der Muslime nach Geschlechtertrennung genügt eine geräumige Galerie. Wieder fällt Licht nur von oben durch schmale Fensterschlitze in den Raum, um den quirligen Alltag auszublenden. Der rund 100 Quadratmeter große Raum ist bis auf ein paar Hocker völlig ungegliedert und wird von verschiedensten Gruppen wie auch von Einzelpersonen genutzt.
Ein schon sehr abstraktes Höhlenerlebnis bietet eine Installation am Zuse-Institut Berlin: Der Künstler Rainer Fest fügte im Hof der Denkfabrik zwei eng aneinander gerückte Granitquader zur Skulptur „Interior Space – Silent Place“ zusammen. Der eine Quader ist hohl, der andere blockiert den Ausblick. In dem stillen Kämmerlein können die Wissenschaftler „ihr Potenzial ausloten“, wie der Bauherr meint.
Nicht von dieser Welt: der Weg der Abstraktion
„Ein Ort in der Welt, aber nicht von dieser Welt“ sollte das „Haus der Stille“ der Abtei Altenmünster im Sauerland werden. Peter Kulka hat es als ein Haus der Einkehr und spirituellen Suche entworfen, offen für alle. Kulka hatte auf dem Klosterberg bereits eine Kapelle, ein Refektorium und ein Wohnhaus für Novizen gebaut. Das Gästehaus gestaltete er als strengen Kubus aus Sichtbeton. Bis zur Hälfte in den Hang eingegraben, birgt der Block ein „Seins-Haus“ aus Wohnzellen und einen Meditationsraum. Kulka verzichtete „auf vordergründige, schnell erfahrbare, kurzlebige Bilder“ und ging in die nackte Abstraktion.
Jede Bildsprache versagt auch vor den Gräueln der NS-Zeit. Im „Haus der Stille“ im ehemaligen KZ Bergen-Belsen hat das Künstlerpaar Ingema Reuter und Gerd Winner auf Initiative eines privaten Fördervereins eine begehbare Skulptur geschaffen: einen in Blech gehüllten, etwas verzogenen Quader unter einem Glasdach, dessen Inneres bis auf ein paar Hocker völlig frei bleibt. Ein vielleicht nicht gerade tröstlicher, aber ein schützender Ort der Besinnung am Rande des Lagers.
Pause von der Arbeit
Während öffentliche Bauherren schon vermehrt Rückzugsräume für Studenten und Beschäftigte anbieten, sind sie in Firmen hierzulande noch rar. Im ThyssenKrupp-Quartier in Essen schufen JSWD Architekten gemeinsam mit Chaix & Morel et Associés einen Raum der Stille, der Mitarbeitern und Gästen offensteht. Kirchliche Träger, vom Bauherrn eingeladen, entwickelten „einen würdevollen Raum ohne Symbole“. Ein nach unten offener Würfel hängt hier zentral von der Decke und markiert einen hellen Raum, ein wenig wie ein säkularisiertes Ziborium, der Überbau eines Altars – nur dass hier die Mitte leer bleibt. Die Oberfläche im Inneren des Kubus bilden gespleißte Titanschindeln aus der Produktpalette des Unternehmens, auf denen sich das von oben einfallende Licht bricht.
Natur im Fokus
Natürlich spielt die Natur auch eine wichtige Rolle, wenn es um Räume der Stille geht. Nicht erst seit der deutschen Romantik mit ihrer Waldeinsamkeit bietet sie Zivilisationsmüden Zuflucht. Doch erstaunlich selten findet man sie gegenwärtig in architektonischen Konzepten wieder. Im „Raum der Stille“ des Flughafens München etwa wird sie in Gestalt eines alten Eichenbaumstamms eher herbeizitiert. Das Konzept stammt von Erwin Wiegerling, Künstlername e. lin. Ziemlich einsam und gar nicht mehr kraftstrotzend steht der Stamm entrindet und poliert, in einem gläsernen Gehäuse, das er oben wie unten folgenlos durchdringt. Werden so nicht Opfer präsentiert?
Überzeugender scheint da der „Wald der Erinnerung“ in Potsdam-Schwielowsee von Rüthnick Architekten aus Berlin: Die Gedenkstätte für alle im Dienst oder Einsatz verstorbenen Angehörigen der Bundeswehr liegt eingebettet in den Landschaftsraum am Rande einer Kaserne. Zentrales Element ist der „Weg der Erinnerung“. Er führt die Besucher vom Zugang durch das Empfangsgebäude bis zum „Ort der Stille“. Rechts und links des Weges sind sieben Ehrenhaine aus Auslandseinsatz-Gebieten in Waldlichtungen eingebettet. Die kleinen quaderförmigen Pavillons aus erdfarbenen Ziegelsteinen öffnen sich zum Wald hin und bilden kleine, die Natur rahmende Räume im großen Raum des Waldes.
Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg).
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