Text: Christoph Gunßer
Eine verschlossene Tür kann Demenzkranke rasend machen. Zu viele Menschen, ein klingelndes Telefon oder ein laufender Fernseher ebenfalls. Sie werden dann ungehalten, aggressiv, wandern ziellos umher, werden depressiv. Weil sich die Patienten dabei häufig selbst gefährden und die Pflegekräfte überfordert sind, sperrt man viele von ihnen immer noch weg und stellt sie medikamentös ruhig. Unterdessen steigt die Zahl der Erkrankungen: Jährlich kommen mehr als eine Viertelmillion Patienten hinzu; bis 2050 wird mit einer Verdoppelung gerechnet.
Heilung ist derzeit nicht in Sicht. Dabei wird allenthalben intensiv geforscht, auch an nicht-pharmazeutischen Therapien. Zahlreiche Studien belegen inzwischen, dass die Pflege-Umgebung für das Befinden dementer Menschen eine eminent wichtige Rolle spielt. Nicht nur liebevolle Fürsorge, die Gegenwart von Kindern oder Tieren, auch die Gestaltung des Umfeldes kann den Fortschritt der Krankheit verlangsamen und Symptome lindern. Auch Architektur kann viel dazu beitragen.
Verschlossene Türen als Reizthema zu verbergen, wäre da ein Anfang. Den Rastlosen sinnvolle Wege und Tätigkeiten anzubieten, ein Fortschritt. Den von der Auflösung des eigenen Ich zutiefst verunsicherten Menschen geschützte, einprägsame Orte mit einem Bezug zur Welt zu gestalten, ein wesentliches Ziel. Die Wissenschaft nennt solche Orte „Ankerplätze“.
Klausur im Terrassenhaus
Am Zentrum für Psychiatrie Reichenau hat man Erfahrung mit Reformen. Der inmitten eines Parks voll exotischer alter Bäume am Bodensee bei Konstanz gelegene Klinikkomplex wurde vor gut hundert Jahren als eine badische Musteranstalt gegründet: Behäbige Jugendstilhäuser, in den Zwanzigerjahren Labore der modernen Psychotherapie und Sozialpsychiatrie, in der NS-Zeit nach Deportation der Patienten zur Napola-Eliteschule umfunktioniert, prägen noch heute das Areal; nur Feldarbeit müssen die Kranken nun nicht mehr verrichten – der Bauernhof wurde ausgegliedert. Die entlang zweier Ringstraßen locker aufgereihten Gebäude beherbergen seit der Psychiatriereform Fachkliniken und Wohngruppen für psychisch Kranke; die wenigsten Gebäude sind eingezäunt.
Am nordöstlichen Rand des Parks, in einer Bauflucht mit Heizwerk und Casino, entstand die neue Klinik für Alterspsychiatrie. Sie war zuvor beengt im Obergeschoss eines 70er-Jahre-Zweckbaus am anderen Ende des Parks untergebracht. In einem VOF-Verfahren für den Neubau setzten sich huber staudt architekten aus Berlin, als Außenseiter durch. Mit Klinikbauten erfahren, nahmen sie bei der Planung nicht nur den sanft nach Süden abfallenden Pavillonpark in ihren schlichten, terrassierten Baukörper auf. Sie orientierten sich auch an den Erkenntnissen der jüngeren Demenzforschung zur Architektur.
Helle Höfe, offenes Dach
Für die zur Zeit 46 Patienten, die im Schnitt etwa sechs Wochen hier bleiben, gibt es im ersten und zweiten Obergeschoss zwei weitläufige Stationen mit Ein- und Zweibettzimmern. Weitläufig deshalb, weil sich das Gebäude in Flügel nach Ost, West und Süd auffächert, in deren Mitte jeweils ein Hof liegt. Zu ebener Erde ist die Verwaltung nebst Behandlungsräumen untergebracht.
Die Erschließung umrundet diese hellen, von geschosshohen Glasscheiben gerahmten Höfe. Das bedeutet für das Personal im Vergleich zu einer eher kliniktypischen Mittelgang-Erschließung zwar längere Wege. Die Rundgänge bieten den Patienten aber genau die „sinngebenden Ziele“, die „Sichtlinien zum Ziel“, welche die Forschung fordert. Sie vermitteln ein Gefühl der Zugehörigkeit, Sicherheit und zugleich Autonomie. Jeder der Höfe ist individuell gestaltet und erleichtert so die Orientierung.
Im zweiten Stock öffnet sich die Station gen Süden auf eine geräumige Dachterrasse. Hier kann nicht nur unterm aufwendigen Flugdächle durch Villa-Savoie-mäßige picture windows geblickt werden, es darf auch an einem großen Hochbeet gepflanzt, gehackt und gejätet werden. Das Gärtnern stärke das Selbstvertrauen und wirke so ebenfalls bremsend auf die Demenz, heißt es.
Helles Tageslicht tut dem Gefühlshaushalt der Menschen auf jeden Fall gut. Sie können sich entlang der Gänge auf Holzbänken niederlassen, die zugleich einer Kollision mit den großen Glasflächen vorbeugen, deren Rahmen wie die Zimmerfronten zum Hof (und die versteckten Brandabschnittstüren) ebenfalls aus warmem, lasiertem Nadelholz bestehen. Die Zimmer sind standardmäßig durch behindertengerechte Nasszellen vom Flur abgeschirmt und blicken aus breiter Festverglasung auf den Park – die seitlichen Öffnungsflügel sind auf den Stationen generell durch Lamellen versperrt, um einer Flucht oder Suizidversuchen vorzubeugen.
Pendant zu den Bänken am Hof ist hier eine niedrige alkovenartige Sitzfläche aus Holz, von der sich das Leben draußen beobachten lässt. Zusätzlich zu den zentralen Tagesräumen in Sichtweite der Pflegestützpunkte sind dies wichtige „Ankerplätze“ für die Patienten. Nebenbei bemerkt: Die vielen harten Oberflächen machen die Akustik keineswegs hallig. Die Atmosphäre in den Fluren ist angenehm gedämpft. Da bekannt war, dass Demenz mit großer Lärmempfindlichkeit einhergeht, wurde hier eigens ein Gebäudeakustiker hinzugezogen, der vor allem gelochte Akustikdecken empfahl.
Multisensorik versus Klarheit?
Die serielle Struktur der inneren Fassaden wie auch der Zimmer verleugnet jedoch nicht den institutionellen Charakter der Einrichtung – es ist eine Klinik. Die von der Wissenschaft empfohlenen Kleingruppen von acht bis maximal 15 Patienten lassen sich in diesem Kontext nur schwer bilden. Was gegenüber einem zeitgemäßen Pflegeheim vor allem fehlt, sind die persönlichen Gegenstände der Patienten, die zusätzlich bei Orientierung und Erinnerung helfen würden. Das sei bei der kurzen Verweildauer nicht leistbar, heißt es von den Pflegekräften. Eigentlich verfolgt die moderne Psychiatrie heute ja eine dezentrale, wohnortnahe Strategie. Hierher kommen also nur die schwierigeren Fälle zur Behandlung.
Abgesehen von der Bepflanzung der Höfe verzichteten die Architekten auf eine individuelle Gestaltung der einzelnen Bauabschnitte. Die Räume definieren sich erst über ihren Kontext, wirken auf diese Weise gewiss klarer, homogener – auf Kosten der Patienten, die unverwechselbare Orte suchen? Das ist schwer zu beurteilen. Auch die psychiatrische Fachwelt ist sich nicht darüber einig.
Just vor der Fertigstellung des Gebäudes wechselte die Leitung der Klinik. Da der neue Chefarzt nun anders als sein „homogener“ Vorgänger zu den Vertretern der Individualisierung zählt, setzte er noch durch, dass mehrere Flurpartien kräftig grün getüncht wurden. Man darf gespannt sein, ob weitere „multisensorische“ Schritte folgen. Die robuste Struktur des klösterlichen Gebäudes dürfte so leicht nichts erschüttern. Auch eine Umnutzung, etwa für Suchtkranke, hält der technische Direktor für machbar.
Das Projekt hat jetzt die „Auszeichnung herausragender Gesundheitsbauten“ des Verbandes der Architekten für Krankenhausbau und Gesundheitswesen erhalten. Der Verband lobt die „topografisch-städtebaulich, konzeptionell, gestalterisch und handwerklich außerordentlich gelungene Erweiterung des Klinikzentrums“ ebenso wie die „wohnliche, den Patienten zugewandte Disposition und die an Villen der Klassischen Moderne erinnernde Architektursprache“, durch die „der Eindruck einer herkömmlichen psychiatrischen Klinik vermieden“ werde. Am wichtigsten: „Das Projekt bringt Wertschätzung und einen würdevollen Umgang den kranken Menschen gegenüber zum Ausdruck.“
Christoph Gunßer ist freier Fachautor in Bartenstein (Baden-Württemberg)
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