Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Wände aus Öl“ im Deutschen Architektenblatt 02.2017 erschienen.
Von Heiko Haberle
1953 begann bei der Firma Bayer erstmals die industrielle Produktion von Polycarbonat. Heute bestehen aus diesem Kunststoff auf Erdöl-Basis CDs und Chipkarten, Autoscheinwerfer und Visiere von Schutzhelmen. Seit den frühen 1990er-Jahren wird er auch als Fassadenmaterial eingesetzt. Doch noch immer scheint es eine gewisse Hemmschwelle zu geben, einen Kunststoff großflächig an einem Gebäude einzusetzen. Dabei spricht vieles dafür, dies zu tun: Polycarbonat ist lichtdurchlässig, besitzt aber eine viel geringere Wärmeleitfähigkeit als Glas, dämpft also Temperaturschwankungen.
Es ist sehr schlagfest, schwerentflammbar und formstabil zwischen minus 40 und plus 115 Grad. Es ist günstiger als Glas und deutlich leichter, was sparsame Unterkonstruktionen ermöglicht. Polycarbonat ist recyclingfähig, kann zu Granulat verarbeitet und erneut in Form gebracht werden. Für den Bau geschieht dies als Stegplatten mit Hohlkammern. Diese Paneele haben zwar meist eine Standardbreite von 50 Zentimetern, können aber in verschiedenen Stärken und mit unterschiedlich vielen Hohlkammern produziert werden, was die optische Dichte beeinflusst. Das Material kann transparent oder transluzent sein, komplett oder nur an einzelnen Stegen eingefärbt sein, bedruckt und beschichtet werden.
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Neues Image, neue Aufgaben
Ist Polycarbonat also ein noch immer unterschätztes Wundermaterial, das zu Unrecht eher mit dem Industrie- und Gewerbebau assoziiert wird? In diesem Bereich begannen auch Allmann Sattler Wappner Architekten Polycarbonat einzusetzen. Am Dornier-Museum Friedrichshafen oder am Baubetriebshof in Poing großteils als thermische Hülle: „So ein purer Einsatz von Polycarbonat ist aber nur dort sinnvoll, wo geringere Anforderungen an die durchschnittlichen erforderlichen Raumtemperaturen bestehen als im Wohnoder Bürobau“, sagt Rob Liedgens, Associate in dem Münchener Büro. Bei der Niederlassung der Firma Würth in München-Freiham umhüllt weiß getrübtes Polycarbonat eine Stahlbetonkonstruktion und schafft einen homogenen, glänzenden Baukörper. Der Kunststoff wurde zum Material der Wahl, um Industriebauten zu veredeln ohne ihren Charakter zu leugnen.
So erhielt auch das 2013 fertiggestellte Logistikzentrum am Stammsitz von Würth in Künzelsau-Gaisbach nach zahlreichen Bemusterungen eine Fassade aus Polycarbonat-Paneelen mit sieben Kammern und einer bedruckten weißen Punktierung. Der benachbarte Neubau von 2016, der die betriebseigene Akademie, eine Kantine, einen Abholshop und einen Showroom beherbergt, adelte dann endgültig das Polycarbonat auch für einen repräsentativeren Einsatz als Markenbotschafter. Jene Halbzeuge, die die Firma Würth herstellt, also etwa Anker und Verbindungsstücke, sollten zum gestalterischen Thema werden, wie Projektleiter Rob Liedgens erklärt: „Wir haben das klarste Polycarbonat gewählt, um die Unterkonstruktion möglichst sichtbar zu machen und die besten Tageslichteffekte zu erzielen.“ Um kaum getrübt zu sein, ist das Polycarbonat nur zwei Kammern stark. Es übernimmt keine thermische Funktion, sondern wird zur „Zierfassade“ einer „gedämmten Kiste“. Die weiße Farbe stammt von einer flächendeckenden Dichtungsbahn und der lackierten Unterkonstruktion.
Während Allmann Sattler Wappner inzwischen ein großes Spektrum von Einsatzmöglichkeiten für Polycarbonat ausgeschöpft und dabei unterschiedliche Grade von Transparenz erprobt haben, spielen die energetischen Eigenschaften des Materials bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Das deckt sich mit der Einschätzung einer bereits 2011 veröffentlichten Studie des Zentrums für nachhaltige Energietechnik der Hochschule für Technik Stuttgart (HfT). So sei die Materialwahl meist gestalterisch motiviert, wohingegen thermische Potenziale ungenutzt blieben. Die Studie untersuchte drei mögliche Arten, die Stegplatten mit energetischem Mehrwert zu nutzen, insbesondere bei der Sanierung von Bestandsbauten. Das Luftkollektor-Konzept lässt zwischen dem eigentlichen Haus und einer Polycarbonat-Hülle einen durchströmten Zwischenraum entstehen. In der zweiten Variante werden die Hohlkammern des Polycarbonats selbst von Luft durchströmt. Die dritte, der Studie zufolge vielversprechendste Option sieht Polycarbonat als transparente Wärmedämmung anstelle herkömmlicher Dämmungen vor.
Doch seitdem scheint sich nicht allzu viel getan zu haben, sodass Professor Günter Pfeifer und seine Kollegen von der Fondation Kybernetik, einem an der TU Darmstadt angesiedelten Forschungsverbund, mit ihren Luftkollektor-Fassaden noch ziemlich alleine auf weiter Flur stehen. Dass in der Baupraxis so wenig Bewegung in diesem Bereich ist, liegt für Pfeifer an der Politik: „Die hält an der herkömmlichen Dämmung fest. Alternativen sind nicht vorgesehen.“ Pfeifer möchte Energiegewinne maximieren und einlagern – und das mit möglichst wenig Technik. Seine Konzepte nutzen das Gewächshausprinzip und kombinieren es mit einer Speichermasse. „Polycarbonat setzen wir so oft ein, weil es günstig ist, aber auch, weil wir es vom Image eines schmuddeligen Plastikmaterials befreien wollen. Daher sind die Details besonders wichtig.“
Plastik mit energetischem Mehrwert
Die Bauten der Fondation Kybernetik erinnern gestalterisch an die viel häufiger publizierten Konzepte von Lacaton & Vassal, weisen aber stets noch einen solarthermischen Clou auf. In Freiburg profitiert ein Bestandsbau von der warmen Luft, die sein neuer Anbau zwischen seiner Fassade aus Polycarbonat-Paneelen und den 24 Zentimeter starken Wänden aus Porenbeton sammelt. In Heroldsberg bei Nürnberg wurde nach einem Entwurf der Architektin Lisa Barucco ein Einfamilienhaus aus den 1960er-Jahren mit einem zweiten Haus aus Polycarbonat auf einer Holzkonstruktion umbaut. Das nicht mehr im Kontakt zur Außenluft stehende Bestandshaus wird zur Speichermasse, und im Zwischenraum entstehen nutzbare Wintergärten.
Das gleiche Funktionsprinzip konnten Pfeifer, die Fondation Kybernetik und die Architektin Annette Rudolph-Cleff in Mannheim-Schönau bei der energetischen Sanierung eines fünfgeschossigen Wohnhauses aus der Nachkriegszeit anwenden. Während anderswo in der Siedlung der gleiche Haustyp unter Styropor verschwindet, wagte die Wohnungsbaugesellschaft GBG an der Lilienthalstraße ein Experiment, das das Gegenteil macht: Solare Einträge befördern, statt fernhalten. Größere statt kleinere Fenster und nur mit Doppelverglasung. Reversible Konstruktion statt unauflösbarer Verklebung. Dämmung nur, wo unbedingt nötig. Und das Ergebnis sieht auch noch viel besser aus.
Zunächst erstaunten die sehr porösen Wände aus so genanntem Trümmerverwertungsbeton, doch als Speichermasse schienen sie ideal. Die nackten Außenwände wurden mit einer Hülle aus sechs Zentimeter starken, transparenten Polycarbonat-Paneelen umbaut. Im 18 Zentimeter breiten Zwischenraum ist die Luft im Winter dadurch etwa sechs bis zehn Grad wärmer als außerhalb. Durch zwei Ventilatoren unterstützt, strömt sie über das Dach von der Ostseite auf die Westseite (abends umgekehrt). Im Keller trifft sie auf einen Steinspeicher, der nichts anderes ist als ein zwei Meter hoher Stapel aus Kalksandsteinen mit offenen Fugen. Nachts wird die Wärme abgegeben. Im Sommer lagert der Steinspeicher die Nachtkühle ein und gibt sie tagsüber über die Fassade und von dort an die Hauswände ab. Bei drohender Überhitzung öffnen sich Dachklappen.
Den Einwand, ob das isolierende Polycarbonat denn ideal sei, um solare Gewinne zu maximieren, relativiert Pfeifer – schließlich verhindere das im Treibhausbau eingesetzte Polycarbonat ja umgekehrt auch, dass gespeicherte Wärme oder Kühle wieder entweiche. Und es gehe ja gerade um eine Zeitverzögerung: „Bei jedem Projekt muss aber die Balance zwischen u-Wert und g- Wert neu gefunden werden. Andernorts hat sich auch schon eine Einfachverglasung als Luftkollektor bewährt.“ Im Mannheimer Luftkollektor-Haus konnte mit dem neuen Energiekonzept, das außerdem öffenbare Wintergärten als Klimapuffer und Dämmungen an der Nordseite, Dach und Kellerdecke beinhaltet, der Heizenergiebedarf seit der Fertigstellung 2014 von 273 kWh/m2 auf durchschnittlich 25 bis 30 kWh/m2 gesenkt werden. Welchen Anteil daran die Luftkollektor- Fassade hat, soll eine baldige Evaluation ergeben.
Einfach mal ausprobiert
Ebenfalls sehr experimentell, wenn auch hauptsächlich wegen seiner radikalen Einfachheit, ist das Haus der Architektengemeinschaft Brandlhuber + Emde, Burlon in der Berliner Brunnenstraße. Bei seiner Fertigstellung 2009 hatte die Rohbauästhetik mit ihrer undurchsichtigen Polycarbonat-Fassade und nur wenigen Fenstern, im steinernen Berlin enorm polarisiert. „Wir wollten vor allem günstig bauen“, berichtet Markus Emde und spricht von einem „Versuchsbau“, der an vielen Stellen nur wenig mit DIN-Normen zu tun habe. Die ursprüngliche Idee sah vor, dass jeder Nutzer seiner Etage eine individuelle Fassade geben konnte. Das Polycarbonat war als eine Art Platzhalter gedacht, blieb dann aber dauerhaft im Entwurf und am Bau.
Hier ist das fünf Zentimeter starke Polycarbonbat mit seinen zehn Kammern die thermische Hülle: keine Dämmung, keine Hinterlüftung, kein Wandaufbau in Schichten. Als Absicherung gegen Windlasten dient eine Konstruktion aus vertikalen Stangen und horizontalen Eichenbohlen, die als Regale oder Bänke genutzt werden können. Mit einem u-Wert von 0,8 ist die Fassade mit einer modernen Dreischeiben-Verglasung vergleichbar. Während die inneren Stege transparent sind, sind die äußeren transluzent. Es kommt also Tageslicht innen an, aber der spannende Ausblick auf die lebhafte Brunnenstraße wird verwehrt. Das Haus ist also sowohl zum Straßenraum als auch zu seinen Nutzern relativ streng. Wobei das nur halb wahr ist, denn das Haus wechselt mit den Lichtverhältnissen sein Erscheinungsbild. Mal wirkt es stumpf, mal glänzend, mal weiß, zart rosa, bläulich oder gelblich.
In den Büroräumen der Architekten offenbart sich dann doch noch ein Nachteil von Polycarbonat: Es gibt kaum Schallschutz. Doch die Planer stört das nach ihren Worten nicht. Für das „Atelierhaus“ mit Galerien und Büros galten weniger strenge Auflagen, und die Wohnung im Dachgeschoss besitzt mit etwas Abstand auf der Innenseite eine zusätzliche Einfachverglasung. Im Polycarbonat haben sich an wenigen Stellen Flecken gebildet, was geschehen kann, wenn die Hohlkammern nicht sorgfältig mit einem Tape verschlossen wurden, wie Markus Emde erklärt. Auch Rob Liedgens berichtet, dass sich in diesem Fall Kondensat bilden könne, sich Algen oder Insekten ansiedeln. Doch ähnliches gelte auch für andere Baustoffe und der Vorteil an Polycarbonat sei ja, dass man schadhafte Paneele leicht auswechseln könne. Liedgens verweist auch darauf, dass sich Polycarbonat bei Wärme ausdehne, was bei der Würth-Akademie mit 47 Metern Kantenlänge bis zu 10 Zentimeter ausmache. Und Günter Pfeifer rät unbedingt zu einer UV-Beschichtung. Sonst könne das Material vergilben oder irgendwann spröde werden. Er selbst setzt darauf, dass die Materialeigenschaften 30 Jahre lang unverändert bleiben.
Einen Wermutstropfen hält noch die genannte Studie der HfT Stuttgart bereit: Obwohl es recyclingfähig ist, sieht die Umweltbilanz von Polycarbonat nicht ganz so rosig aus. Der Primärenergiebedarf für die Herstellung liegt nach der Studie acht Mal so hoch wie bei Glas und auch der Wasserverbrauch ist erheblich.
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