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„Barrieren behindern alle“

Verena Bentele, Behinderten-Beauftragte der Bundesregierung, fordert Vorrang für Barrierefreiheit, kritisiert Bewusstseins-Lücken bei Architekten und beschreibt, wie Blinde Bauten wahrnehmen.

01.03.20178 Min. 1 Kommentar schreiben

Interview: Roland Stimpel

Frau Bentele, darf man noch Treppen bauen?

Natürlich darf man das, wenn es daneben eine andere Möglichkeit gibt, den Höhenunterschied zu überwinden, etwa Rampen oder Aufzüge. Persönlich finde ich übrigens Treppen gut. Ich bin Sportlerin und laufe sie gern.

Kann und soll die Welt barrierefrei sein?

Das wäre eine schöne Welt. Wo Barrieren beseitigt sind, hat es niemand schlechter, aber viele haben es besser – früher oder später. Denn niemand ist vor Behinderungen sicher. Nur vier Prozent der Menschen haben sie von Geburt an; 96 Prozent der Behinderungen treten im Laufe des Lebens auf. Wer sich zum Beispiel rechtzeitig eine bodengleiche Dusche baut, der profitiert schon bei einer temporären Verletzung. Mit einem Kreuzbandriss ist es nicht leicht, über einen hohen Duschrand zu klettern.

Wo ist für Sie der barrierefreie Umbau am dringendsten?

Den größten Bedarf wird es in den nächsten Jahren infolge des demografischen Wandels beim Wohnen geben. Innerhalb der Wohnung, aber auch bei der Erschließung. Man muss natürlich seine Wohnung gut verlassen und wieder erreichen können. Heute geht das oft nur schwer. Die oft mangelnde Barrierefreiheit reißt Menschen dann aus ihrem Umfeld und so aus dem gesellschaftlichen Leben.

Und außerhalb der Wohnung?

Ich stelle die Gegenfrage: Soll es irgendwelche Bereiche geben, die Menschen mit Behinderungen nicht erreichen dürfen? Bedarf an Barrierefreiheit ist überall – ob in öffentlichen Verkehrsmitteln, Arztpraxen, Kneipen oder Konzertsälen, und nicht zuletzt am Arbeitsplatz. Menschen mit und ohne Behinderungen gehen Berufen nach, suchen Orte für Bildung, Kultur und Freizeit auf und brauchen dafür Zugänge ohne Hürden.

Was halten Sie von kleineren Lösungen, die Barrierearmut statt Barrierefreiheit bewirken, zum Beispiel der Abbau von Schwellen ohne das Verbreitern von Türen?

Was bringt die Schwellenfreiheit, wenn jemand gar nicht in die Wohnung hineinkommt? Natürlich ist jedes Beseitigen von Barrieren ein guter Schritt. Für Umbau- oder Neubaumaßnahmen wünsche ich mir, dass konsequent ohne Barrieren gedacht und geplant wird.

Ist das Baudenkmal mit Fahrstuhl und Rampe noch ein Denkmal?

Natürlich ist Denkmalschutz wichtig. Aber noch wichtiger ist das Menschenrecht auf Zugänglichkeit. Wenn Braut oder Bräutigam als Rollstuhlnutzer im historischen Rathaus nicht in den Festsaal kommen, soll der Standesbeamte sie dann auf der Straße trauen? Oder soll der Arzt mit einer Praxis im Gründerzeithaus die Blutprobe unten im Hausflur abnehmen?

Gibt es eigentlich Gegner der Barrierefreiheit?

Bewusste und erklärte Gegner nicht, jedenfalls kenne ich keinen. Aber durch Gedankenlosigkeit gibt es nach wie vor Barrierenbauer. Wer vor Altbauten Pflastersteine legt, der ignoriert Menschen mit Gehhilfen, Rollatoren oder Kinderwagen. Wer öffentliche Verkehrsmittel ohne Leitsysteme für Blinde betreibt, denkt nicht an die vielen, für die solche Orientierungshilfen essenziell sind.

In der U-Bahn hat jeder Fremde Probleme.

Da sieht man, wie universell das Thema ist. Es reicht zum Beispiel weit in Freizeit und Tourismus hinein. Wenn etwa ein Küstenort erklärt, er wolle Tourismus für alle anbieten, dann muss er natürlich auch Rollstuhlfahrern Wege ans Wasser bauen – möglich wäre das mit einer Rampe.

Sie sind Beauftragte der Bundesregierung. Wie steht es in deren Bauten?

Für Bundesbauten gibt es nach dem Behinderten-Gleichstellungsrecht sehr klare Formulierungen: Alle Gebäude, die neu- oder umgebaut oder modernisiert werden, sollen danach barrierefrei sein. Bis 2021 müssen außerdem Berichte über den Stand der Barrierefreiheit von Bestandsgebäuden verfasst werden. Dann müssen in meinen Augen Maßnahmenpläne aufgestellt werden, wie die Barrieren beseitigt werden. Ein Bericht allein hilft noch nicht.
Ich appelliere an Architekten, sich in solche Prozesse einzubringen – nicht nur bei Bundesbauten.

Mit den Architektenkammern veranstalten Sie Regionalkonferenzen zur Barrierefreiheit. Die erste war in München. Wie haben Sie sie erlebt?

Mich haben vor allem die tollen Beispiele von Städteplanern und Architekten überzeugt. So wurden zum Beispiel Häuser für Menschen verschiedener Generationen , die natürlich barrierefrei sind, vorgestellt; das ist ein Projekt, das bauliche und soziale Barrieren berücksichtigt. Die Beispiele haben gezeigt, dass Barrierefreiheit und anspruchsvolle, kreative Gestaltung wunderbare Synthesen bilden können.

Sehen Sie auch Defizite bei Architekten?

Ja, im Bewusstsein. Vielen Architekten ist die Bedeutung des Themas im Studium, in ihrer bisherigen Praxis oder in Fortbildungen nicht vermittelt worden. Darum steht es nicht weit genug oben auf ihrer Prioritätenliste. Das gilt aber nicht nur für sie, sondern auch für öffentliche und private Bauherren. Manche beziehen Menschen mit Behinderungen und ihre Belange frühzeitig ein. Anderen wird erst spät bewusst, dass es nur einen nicht für jedermann nutzbaren Lastenaufzug gibt und auf den Stufen keinen kontrastreichen Belag für Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen. Hier sehe ich Architekten in der Verantwortung. Es gehört nach meiner Ansicht zu ihrer Beratungspflicht, Bauherren auf das Nötige hinzuweisen, damit sie auch noch in 30 Jahren in dem Haus leben können.

Die Bayerische Architektenkammer hat eine eigene Beratungsstelle.

Es ist gut, wenn Kammern beraten. Schon allein die Existenz einer solchen Beratungsstelle wirkt bewusstseinsbildend. Das Thema darf bei keinem Architekten mehr durchrutschen. Das rächt sich spätestens dann, wenn mangels Kompetenz der Planungsauftrag für eine barrierefreie Kita an einen anderen geht. Auch im Interesse der Architekten sollte das Thema Pflichtfach sein.

Was antworten Sie einem Architekten auf den Satz: „Diese Rampe würde aber hässlich“?

Dann soll er eine schöne Rampe entwerfen; bei Wendeltreppen geht es doch auch. Wenn ein Architekt allerdings keine schöne Rampe entwerfen kann, dann muss er sich selbst in Frage stellen, nicht die Bauaufgabe. Architekten sollten Barrierefreiheit nicht als lästigen Zusatz sehen, sondern als spannende Herausforderung. Schon das schiere Potenzial an Aufträgen sollte sie reizen.

Ein anderer Architekt sagt: „Die Bewegungsfläche und das Treppenhaus mit zweitem Handlauf kosten viel Fläche.“ Wer soll das alles zahlen, wer muss sich dafür räumlich einschränken?

Das Thema darf man nicht auf dem Rücken einzelner Menschen austragen, die direkt oder indirekt dafür zahlen sollen. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, und man sollte bedenken: Barrierefreiheit bringt hohen gesellschaftlichen Nutzen. Sie ermöglicht Bildung, Arbeit und Teilhabe jeder Art, sie kann teure Pflege im Heim ersparen, kurz: Sie kostet nicht nur, sondern sie bereichert uns auch, und zwar wirtschaftlich, sozial und kulturell. Für den Wohnungssektor bedeutet das konkret: Es sollte mehr staatlich finanzierte Bauten geben, ob in öffentlichen Gesellschaften oder durch Zuschüsse. Im privaten Bau sollte sich jeder fragen, wo er seine Prioritäten setzt: Will man lieber eine Wohnung mit zwei Bädern und Ankleidezimmer oder eine, in der man noch im Alter von 90 wohnen kann? So etwas sollte man bewusst entscheiden.

Wie steht es mit Barrieren im öffentlichen Raum?

Das ist ein wichtiges Thema und kein einfaches. Denn hier zeigt sich, wie unterschiedlich die Bedarfe sind. Ein Mensch im Rollstuhl will einen komplett abgesenkten Bordstein. Für mich als jemand, der nicht sieht, ist ein komplett abgesenkter Bordstein unter Umständen gar nicht gut. Barrierefreiheit ist oft die Suche nach dem Kompromiss.

Haben Sie Ideen zum Stadtverkehr?

Es sollte mehr in den Ausbau des öffentlichen Verkehrs investiert werden, nicht zuletzt in barrierefreie Zugänge. Außerdem sollten Elektroautos hörbar sein.

Braucht jeder Bürgersteig ein Leitsystem?

Mir würde es schon reichen, wenn auf dem Bürgersteig weniger herumstünde. Zwischen Blumenkübeln, Cafétischen und falsch geparkten Autos bleibt kaum noch eine Spur, wo man gut laufen kann, geschweige denn rollen. Auch das sind Barrieren, unter denen alle leiden.

Was wünschen Sie sich vom Autoverkehr?

Ich wünsche mir, dass mehr Menschen auf ihr Auto verzichten und vor allem langsamer fahren. Das erhöht die Sicherheit für alle Menschen, vor allem auch für Kinder.

Zurück zu den Häusern. Wie erleben Sie Architektur, die doch vor allem fürs Auge gestaltetet wird?

Für mich lebt ein Raum vor allem durch Akustik oder Geruch. Ich höre, ob die Decke hoch und ob sie gerade oder gewölbt ist. Ich kann schön geformte Türen oder haptisch angenehme Wände und Möbel fühlen. Und ich erfasse die Atmosphäre mit der Nase. Meine Eltern haben ein Haus mit sehr gesundem Raumklima gebaut, aus Holz und Lehm. Ich mag das Haus auch, weil es durch die großen Fenster und Türen sehr hell ist.

Schätzen Sie einen bestimmten öffentlichen Bau?

Ich mag das alte Rathaus in München. Dort knarrt der alte Holzboden, die Türen sind mit Schnitzereien verziert und ich kann draußen das Glockenspiel im Turm hören. Das ist haptisch und akustisch ein spannendes Haus.

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1 Gedanke zu „„Barrieren behindern alle“

  1. Eine Ergänzungsfrage hätte ich gestellt:
    Wann wird es gelingen Brandschutzkonzepte verbindlich barrierefrei (und kostengünstig) zu erstellen?
    Zu denken ist an erster Stelle an die selbstschließenden Türen, besonders an die Wohnungstüren.

    Antworten

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