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Zurück Die Moderne

Utopisches Potenzial

Die Moderne fasziniert mit ihrem optimistischen Glauben daran, durch Architektur die Welt verbessern zu können. Wo ist diese Zuversicht geblieben? Und wie können wir uns heute ein utopisches Potenzial zurückerobern?

01.08.20175 Min. Kommentar schreiben
Das Haus der Zukunft: 1957 von Monsanto in Tomorrowland gebaut, prägte das „House of the Future“ ein Jahrzehnt lang die Vorstellung der Disneyland-Besucher vom modernen Wohnen.

Text: Christian Holl

Man könnte melancholisch werden. Blättert man durch den 400 Seiten starken Prachtband „The Tale of Tomorrow“, schlägt einem die geballte Zukunftszuversicht der Nachkriegszeit entgegen: gewagte Formen, soziale Utopien, große Gesten, technizistische Abenteuer. Die ersten Wohnexperimente eines Moshe Safdie, die archaische Monumentalität eines Louis Kahn, die Museums- und Kulturbauten einer Lina Bo Bardi. Ob Brasilia oder Kalifornien: Man kann den Optimismus in dieser Architektur greifen. Es scheint ein Blick in eine heile Welt zu sein: ohne Klimawandel, Flüchtlingsströme, Ressourcenkrieg und Rechtspopulismus. Eine Welt, die Architekten noch überzeugt waren, verbessern zu können.

Brutal schön: Das Parlament, das Louis Kahn in Dhaka für die junge Republik Bangladesch baute, ist nur ein Beispiel der ausdrucksstarken Beton-Architektur der Moderne.

Ob 2060 ein Blick in unsere Gegenwart auch melancholisch stimmen wird? Ob eine Mischung aus genossenschaftlichen Wohnprojekten, wie dem Berliner Spreefeld, öffentlichen Leuchttürmen, wie der Elbphilharmonie, und Markenarchitektur, wie der Fondation Louis Vuitton, aus den Papiertragwerken von Shigeru Ban, den Raumblasen von Tomás Saraceno, den Stadtvisionen von Vincent Callebaut und den nachhaltigen Bauten von Anna Heringer im Rückblick verheißungsvoller wirken wird als heute?

Aber sind nicht viele Gebäude, die denen vergleichbar sind, die in der Nachkriegszeit utopisches Potenzial zum Ausdruck brachten, kontaminiert? Von wirtschaftlichem Einfluss, von ökologischen Wirkungen, von sozialen Spannungen, die sie auslösten? Von dem Verdacht, sie stabilisierten letztlich, wogegen sie sich wenden? Von einem Eskapismus, der eine heile Welt nur vorgaukelt? Wir mögen den Kampf der Wenigen gegen die Dominanz eines Ungerechtigkeiten und Elend produzierenden Finanzsystems bewundern, deren unverdrossene Zuversicht ruft aber (noch?) nicht die breite Wirkung hervor, die die Hoffnung nähren könnte, der Mehrheit sei das Schicksal der Benachteiligten und zukünftiger Generationen nicht völlig gleichgültig.

„Wir haben unsere Lektion gelernt“, liest man im oben genannten Buch. Haben wir das? „Dem Verschwinden der letzten großen Sozialutopie ist keine Orientierung nach vorne gefolgt – stattdessen Pragmatismus und Durchwurstelei”; was 2001 das Sonderheft „Zukunft Denken“ der Zeitschrift Merkur konstatierte, würde man wohl auch heute noch behaupten können. Der Mehltau der Zukunftsangst scheint auch Architektur und Städtebau nicht zu verschonen. Haben Neoliberalismus, Normendichte und effizientes Studieren jegliche Freude daran, eine bessere Zukunft zu planen, ausgetrieben? Will es sich unsere Gesellschaft leisten, auf utopische Zukunftsentwürfe zu verzichten?

Drei Regeln: Utopie entdecken,Utopie entwerfen

Oder sucht man vielleicht das Utopische in der aktuellen Architektur an den falschen Orten, mit der falschen Brille? Wenn ein Neuaufguss der Moderne schal wirkt und ihre Bilder dadurch nur umso strahlender hervortreten – wo müsste man denn suchen, um sich von einem utopischen Potenzial beflügeln zu lassen und den Mut zu fassen, sich nicht vom Pragmatismus beherrschen zu lassen? Die Lektion zu lernen, könnte ja auch heißen, sich auf eine andere Perspektive einzulassen. Vielleicht könnten dann drei Regeln dabei helfen, eine optimistischere Zukunft zu gestalten. „Utopie existiert ausschließlich, um die Gegenwart in Schach zu halten, um sie durcheinanderzubringen”, schrieb die Kulturwissenschaftlerin Mercedes Bunz 2004 im Band „Renaissance der Utopie“. Nimmt man das ernst, hieße das – erste Regel –, sich nicht an einem Idealbild welcher Zukunft auch immer zu orientieren, sondern erst einmal den routinierten Ablauf der Gegenwart zu stören und kreativ gegen den Strich zu bürsten – um dazu herauszufordern, zu hinterfragen, ob unsere Routinen eigentlich noch zweckdienlich und sinnvoll sind.

Viele Zukunftsvorstellungen projizieren lediglich in die Zukunft, was bereits Realität ist – und variieren nur Maßstab und Anwendungsbereiche. Deutlich zeigen das etwa die 1910 gezeichneten Entwürfe des französischen Künstlers Villemard für das Jahr 2000 – sie gleichen trotz Flugobjekten und ferngesteuerter Maschinen viel mehr der Realität von 1910 als der im Jahr 2000. Mit Bildern die Zukunft zu gestalten, anstatt lediglich die Gegenwart aufzublasen oder zu reduzieren, ist noch selten gelungen. Vielmehr müsste es daher darum gehen, sich – zweite Regel – zu überlegen, wie man auf die Prozesse Einfluss nehmen kann, die zu den Ergebnissen führen, die wir als unbefriedigend empfinden – ob es nun um Bürgerbeteiligung, Förderung von gemeinwohlorientierten Immobilien oder die Zusammenarbeit von Architekten und Fachplanern geht. Diese Vorstellung von Utopie wäre nicht statisch und so auch nicht an ein abschließend einzulösendes Versprechen gebunden.

Und – dritte Regel – es gilt, sich von der Vorstellung von Architektur als der Königsdisziplin der Gesellschaftsgestaltung zu verabschieden und viel stärker die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen zu suchen, um sich von ihnen herausfordern zu lassen, seien es Ingenieur-, Natur- oder Geisteswissenschaften – und dabei auf der gestalterischen Kompetenz zu beharren, die Architekten und Planer anderen Disziplinen voraushaben. Würde das Einhalten dieser Regeln „Pragmatismus und Durchwurstelei“ ausschließen? So weit sollte man sich vielleicht nicht aus dem Fenster lehnen. Aber man sollte es erst einmal versuchen – das wäre dann die vierte Regel.

Sofia Borges & Gestalten (Hg.), The Tale of Tomorrow , Utopian Architecture in the Modernist Realm, Gestalten, Berlin 2016,Englisch, 400 Seiten, 49,90 Euro


Christian Holl ist Autor und gibt Marlowes.de mit heraus. Er lebt in Stuttgart und Frankfurt am Main.


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