Auswahl: Heiko Haberle
Alle zehn Jahre wird Münster bei den Skulptur Projekten um dutzende Skulpturen, Plastiken und Installationen reicher. Kunstliebhaber haben dieses Jahr noch bis zum 1. Oktober für Ihre Entdeckungsreise Zeit. Einige Künstler setzen sich dabei besonders mit vorhandenen und verschwundenen Bauwerken oder mit dem öffentlichen Raum auseinander. Zweiter Ausstellungsort ist erstmals die von der Nachkriegsmoderne geprägte Stadt Marl, die mit dem Skulpturenmuseum „Glaskasten“ und viel Kunst im öffentlichen Raum ohnehin einen Besuch wert ist. Unser Überblick zeigt, was Sie nicht verpassen sollten.
Christian Odzuck: OFF OFD
Am Standort der abgerissenen Oberfinanzdirektion (Architekten: HPP, 1966) rekonstruierte Christian Odzuck die verschwundene Freitreppe als Attrappe. Den früheren Pylon in ihrem Treppenauge deutet er mit Betonfertigteilen an. Die Installation steht in einem Schotterbett, das aus Bauschutt der Oberfinanzdirektion gewonnen wurde. Beleuchtet wird sie von der versetzten und reaktivierten Laterne des ehemaligen Parkplatzes. „Mit der Platzierung seines Werkes vor das Anti-Panorama des brachliegenden Baufeldes verweist Odzuck auf diesen fragilen Schwebezustand zwischen Abriss und Neubau und die städteplanerischen und gesellschaftlichen Potenziale, die daraus entwachsen können“, so die offizielle Werkbeschreibung (WB).
Pierre Huyghe: After ALife Ahead
In einer dem Abriss geweihten Eissporthalle tut sich der Boden unter den Füßen auf. Unter dem aufgefrästen Beton bricht eine urwüchsige Landschaft hervor, in der Menschen, Tiere und Technik interagieren. Hier leben Ameisen, Bienen, Algen und Bakterien. Menschliche Krebszellen, die sich in einem Inkubator permanent teilen, bestimmen etwa, was man über eine App als virtuelle Ebene auf dem Handy sieht. Die Variationen im Muster eines Schneckenhauses bewirken das Öffnen und Schließen eines pyramidenförmigen Dachfensters. „Biologisches Leben, reale und symbolische Architektur und Landschaft, sichtbare und unsichtbare Prozesse, statische und dynamische Zustände verschmelzen miteinander zu einer unsicheren Symbiose.“ (WB)
Ayşe Erkmen: On Water
Wie Jesus übers Wasser laufen kann man im Stadthafen von Münster. Ayşe Erkmen macht das Hafenbecken zur Bühne, die eine neue Perspektive auf die Stadt eröffnet. Ganz nebenbei ist das bisher wenig genutzte Südufer plötzlich ganz leicht erreichbar. Das Projekt fragt: „Wie werden Grenzen auf Landkarten gezogen und soziokulturelle Zugänglichkeit auf dem Reißbrett geregelt? Wie können einmal gebaute Hürden physisch und metaphorisch überwunden werden?“ (WB) Der breite Unterwassersteg wurde aus Überseecontainern, Stahlträgern und Gitterrosten konstruiert. Er besitzt keine Absturzsicherung, sodass Vorsicht geboten ist. Daher stehen permanent Rettungsschwimmer und Taucher bereit. Am Wochenende wird das meditative Wasserwandeln allerdings zum bunten Familienevent.
Oscar Tuazon: Firebuilding
Im noch etwas wilden Außenbereich des Stadthafens ließ Oscar Tuazon ein rätselhaftes Betonobjekt gießen und in der Schalung stehen. Diese sollte abgebrochen und in der Feuerstelle des Objekts verbrannt werden. Als Aussichtsplattform, Sitzbank, Grill und Feuerstelle, die etwa von den hier lebenden Obdachlosen genutzt wird, ist nicht das übliche Kunstpublikum Tuazons Zielgruppe. Die Spuren des Feuers und die vielen Graffitis haben die Skulptur bereits verändert und zeugen von der gewünschten Inbesitznahme. „Der wärmespendenden Skulptur, die als offizielle Architektur im regulierten städtischen Raum kaum denkbar wäre, kommt eine soziale Dimension zu. Sie impliziert eine Form von Partizipation, die sich der Kontrolle ebenso entzieht, wie der Zustand des Niemandslandes.“ (WB)
Thomas Schütte: Nuclear Temple
3 Meter hoch und 2,5 Tonnen schwer ist der rätselhafte Kuppelbau aus oxidiertem Stahl in Münsters altem Zoo – als Haus zu klein, als Modell zu groß. Die acht kleinen Tore führen in einen nach oben offenen Kern, der freilich nur Kindern zugänglich ist. Der Kern als Nucleus könnte den Namen erklären. Aber erinnert die Kuppelform nicht auch an ein Atomkraftwerk oder gar an eine Atombombe, womöglich in Originalgröße? Die Deutungsmöglichkeiten sind vielfältig, zumal der „Tempel“ auch die Sichtverbindung zu zwei vorhandenen Rundbauten herstellt: zur Ruine des ehemaligen Eulenturms und zum „Wasserbären“, dem Teil eines alten Wehres. „In dieser Konstellation aktualisiert sich der Blick auf Stadtgeschichte, die immer auch eine technologische und militärische ist, auf Kolonialgeschichte, die in Münster zum Beispiel in den sogenannten Völkerschauen im Alten Zoologischem Garten präsent war (…). Der Nuclear Temple verweist auf die Fluchtlinien der Zivilisation und ihre Vernichtungen.“ (WB)
Hito Steyerl: HellYeahWeFuckDie
Im „futuristisch-technokratischen“ Gebäude der Westdeutschen Landesbausparkasse (Architekt: Harald Deilmann, 1975) zeigt Steyerl eine Installation aus leuchtenden Betonbuchstaben, Absperrgittern und Filmen. Thematisiert werden die Wechselwirkungen von Massenkultur, Technologie, Macht, Gewalt und Kunst. Der Titel der Installation setzt sich aus den fünf am häufigsten verwendeten Worten der englischsprachigen Musikcharts zusammen. In den Videos geht es um die Entwicklung humanoider Roboter und den Einsatz von Computern im Krieg, etwa in der kurdischen Stadt Cizre. Es ist der Geburtsort des Autors und Ingenieurs al Dschazari, der bereits im Jahr 1205 das Werk „Automata“ über mechanische Apparaturen veröffentlichte.
CAMP: Matrix
Am Theater Münster (Architekten: Harald Deilmann, Max von Hausen, Ortwin Rave, Werner Ruhnau, 1956) stellt das indische Künstlerkollektiv CAMP verschiedene Bezüge zwischen Gebautem und Unsichtbarem, etwa Elektrizität, Kommunikation und Überwachung her. Schwarze Kabel vernetzen den Nachkriegsbau mit dem erhaltenen Portal des Vorgängers. Auf Knopfdruck ertönt die Glocke der benachbarten Kirche, die sogleich, gemixt mit den Beats der Band „Kraftwerk“, zu einem neuen Sound wird. Ein weiterer Knopf animiert auf der anderen Straßenseite eine junge Dame ans Fenster zu treten. Wohnt sie wirklich dort oder ist sie virtuell? „Moderne Architekturelemente und ihre Behauptungen, etwa der Transparenz und Durchlässigkeit versprechende Einsatz von Glasfassaden, werden im Hinblick auf ihre tatsächlichen (…) Qualitäten befragt: Wer befand sich historisch und befindet sich heute vor der Scheibe, wer dahinter? (…) Welche Wege gibt es, sich trotz allem Zugang zum System zu verschaffen?“ (WB)
Nairy Baghramian: Beliebte Stellen
Baumstamm, Wurm, Schlange? Vor und hinter dem Barockpalais des Erbdrostenhofs wirken organisch erscheinende Segmente einer größeren Form wie mal eben so abgelegt. Die lackierten Bronzerohre spielen mit ihrem Titel auf den „beliebten“ Standort an, der bereits 1987 und 2007 Schauplatz der Skulptur Projekte war. „Baghramian antizipiert mit ihrem Werk (…) die behauptete Ortsspezifik der vorangegangenen Setzungen, die vor allem im Werk von Richard Serra (1987) eine zentrale Rolle spielt. Erst nach der aktuellen Ausstellung, im Fall eines Ankaufs der Arbeit, sollen die Einzelteile der zunächst provisorischen und nur mit einer Vorlackierung versehenen Skulptur verschweißt und das Werk vollendet werden.“ (WB)
Abstecher nach Marl: The Hot Wire
In Marl findet mit „The Hot Wire“ ein Ableger der Skulptur Projekte statt. Thomas Schütte schuf dafür auf einem unscheinbaren Parkplatz neben dem Rathaus die „Melonensäule“, einen Zwilling seiner Münsteraner „Kirschsäule“ von 1987. Andere Kunstwerke werden zwischen Münster und Marl ausgetauscht, um in anderem Kontext eine neue Wirkung zu entfalten – so auch die Installation „Angst“ von Ludger Gerdes, die sich am Marler Rathaus befindet. Das Skulpturenmuseum „Glaskasten“ zeigt außerdem Modelle aus dem Archiv der Skulptur Projekte.
Mehr Informationen:
www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de/de/thehotwire/
War dieser Artikel hilfreich?
Weitere Artikel zu: