Sind Städte, wie manche überzeugt sind, unplanbar? Oder beruht der desolate Zustand neuer Viertel mit ihren Straßen ohne jede Anmutung und Aufenthaltsqualität auf fatalem Unwissen der Fachleute?
Wenn von einer schönen Stadt die Rede ist, sprechen wir ausschließlich vom historischen Zentrum. In den neuen „Europavierteln“ hinter den Bahnhöfen von Stuttgart, Zürich oder Frankfurt fröstelt es uns angesichts der abstoßenden Kälte und Langeweile ihrer ungefassten Stadträume. Es sind Resträume zwischen Häusern, die mit Wegen, Spielgeräten, Bänken und Pflanzen aufgefüllt werden, um sie in ihrer räumlichen Belanglosigkeit zu rechtfertigen. Jede einzelne alte Bebauung – sie muss nur mehr als 100 Jahre alt sein – hat bedeutend mehr Schönheit und Lebensqualität als heutige Quartiere! Schönheit durch Alter also? Oder sind wir Ewiggestrige? Es hat aber sicher nichts mit „ewiggestrig“ zu tun, wenn man versucht, ein lebenswertes, schönes Quartier zu entwerfen! Der überall zu beobachtende Wiederaufbau alter Häuser und Quartiere jedenfalls scheint eigentlich nur der Hilfeschrei einer Gesellschaft zu sein, die von Planern und Architekten andere Qualitäten erwartet, als wir anbieten.
Während Nutzungsmischung und Dichte mittlerweile anerkannte Regeln sind, finden Schönheit und Angemessenheit der Straßenfassade, der Entwurf des Straßen- und Platzraums noch immer kaum Anerkennung. Dabei ist der öffentliche Raum der Gemeinschaftsbesitz unserer Gesellschaft. Anders als der private Wohnraum, den wir sorgfältig gestalten, bleibt die Gestalt des Straßen- und Platzraums in unseren Stadtplanungsämtern ungeplant. Sie wird dem Unwissen privatwirtschaftlicher Bauherren überlassen.
Eine Befragung durch die Bundesstiftung Baukultur auf der sechsten „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ ergab, dass 55 Prozent der 150 anwesenden Experten in Altbauvierteln wohnen. Wenn wir als Verantwortliche die alten Viertel schöner finden, warum transferieren wir diese Qualitäten nicht in unsere Zeit? Warum lösen wir die Gentrifizierung nicht mit der Errichtung von neuen Quartieren gleicher Qualität?
Heute beginnt Quartiersplanung mit Technischem wie Straßenbreite und Dichte statt mit Schönheit und stadträumlichem Charakter der Straße und Entwurf des Stadtraums. Der heutige Bebauungsplan ist kein Instrument zur Planung des öffentlichen Raums. Er hat die Qualität des Rezepts einer köstlichen Speise, in dem zwar alle Zutaten aufgezählt werden, das Kochen aber nicht erklärt wird. Das gilt auch, wenn ein städtebaulicher Wettbewerb vorangegangen ist, weil auch dieser sich nicht mit Straßen- und Platzräumen auseinandersetzt, sondern sich in zweidimensionalen Planungen mit modisch geformten Baukörpern und viel „Grün“ verliert.
Die Qualität und Schönheit alter Stadträume ist nicht „irgendwie gewachsen“, sondern dem städtebaulichen Entwurf der damaligen Zeit geschuldet. Um 1900 herum findet man in der Literatur zum europäischen Städtebau praxisnahe Anweisungen, die sich fast ausschließlich mit dem öffentlichen Raum, seiner Proportion und der Anordnung von Häusern beschäftigen. Grundelement des Entwurfs schöner Stadträume ist das städtische Wohn- und Geschäftshaus. Die Form des Hauses muss sich der Form von Straße und Platz unterordnen, die Höhe muss im richtigen Verhältnis zur Straßenbreite stehen. Die Schönheit der Fassade wird zuerst durch die Grundrissorganisation bestimmt. Wenn zur Straße hin ausschließlich Treppen, Bäder und Küchen liegen, weil man glaubt, alle Wohnräume zur Sonne ausrichten zu müssen, verschließt sich das Haus der Straße.
Aus Orientierung, Materialität, Farbigkeit und Proportion der Fassaden wird die Schönheit des Straßenraums entwickelt. Architektonisch kam der Straßenfassade zu allen Zeiten eine besondere Bedeutung zu, weil sie das Haus und seinen Besitzer repräsentierte. Dies hat sich erst mit der Moderne und der Idee des Hauses als solitärem Kunstwerk verändert. Architekten müssen Bauwerke für die Stadt statt Kunstwerke für das eigene Portfolio errichten. Richten wir auch ihre Ausbildung wieder darauf aus!
Christoph Mäckler, Architekt und Stadtplaner, Frankfurt am Main
„Phasen des Stillstands“
Bei Betrachtung der erheblichen Ressourcen, die Gesellschaften für das Bauen aufbringen, sollte man davon ausgehen können, dass die Produkte dieser Bemühungen auch schön sind, das heißt Wohlgefallen auslösen. Nach Kant bedeutet „Das ist schön!“, dass wir ein ästhetisches Geschmacksurteil fällen, das ein interessenloses Wohlgefallen beschreibt. Damit sind, unter anderem, die gute Nutzbarkeit oder die ökonomische Bauweise für die Schönheit eines Baus unerheblich. Das Wohlgefallen kommt aus der inneren Schönheit des betrachteten Gegenstandes. Wie können Architekten so ein Wohlgefallen auslösen? Grundlage dafür sind die kollektiven Werte, die in der Architektur ihren Ausdruck finden. Zum Beispiel verkörpern absurd schöne gotische Kathedralen die religiösen Werte der Gesellschaften, die diesen Stein gewordenen Himmel auf Erden über Generationen hinweg erstellt haben. Daher werden in Zeiten historischer und kultureller Umbrüche auch die Architekturen, die die überwundenen Werte verkörpern, als nicht mehr schön beurteilt und oft entsorgt. Dem Leser fallen bestimmt genügend Beispiele von gesprengten Stadtschlössern und Autobahnschneisen weichenden Gebäuden ein. Es sei die Vermutung erlaubt, dass die Menschen diese historische Bausubstanz, die ihnen den Weg zur modernen Stadt blockierte, auch wirklich nicht mehr schön fanden.
Mit der Entwicklung der Denkmalpflege und den später folgenden zweifelhaften Wiederaufbauforderungen von historischer Bausubstanz stellt sich nun die Frage: Handelt es sich dabei um eine Rückbesinnung auf historische Werte oder sind diese historischen Objekte von zeitloser Schönheit, die über die aktuellen kollektiven Werte hinausgeht?
Unzweifelhaft befinden wir uns derzeit in einer Phase der Romantik: Die neuen Werte sind noch nicht etabliert, aber die alten Werte der Moderne gehen verloren. Völlig typisch für solche Phasen des Stillstands, den belles époques, ist die Sehnsucht nach der schönen alten Zeit. Das darf aber nicht verwechselt werden mit der Revitalisierung dieser Werte. Es ist nur eine kollektive Sehnsucht, keine tragfähige Idee für die Zukunft. Damit verfügen wir heute leider über kein einheitliches Wertegefüge, und die Frage nach dem allgemeingültigen Schönheitsideal und damit auch nach einem einheitlichen Stil in der Architektur ist zurzeit unbeantwortet.
Es bleibt also nur die reine Schönheit der Architektur, die nicht der Umkehrung der gesellschaftlichen Werte ausgesetzt ist. Diese muss Schönheitskriterien a priori erfüllen: Es ist die Schönheit der Geometrie.
Markus Wiegleb, Architekt, Berlin
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