Von Reiner Nagel
Das Europäische Kulturerbejahr 2018 geht auf die Schlussgerade. Möglicherweise haben Sie nicht den ganzen Verlauf seit dem Start beim Weltwirtschaftsforum in Davos verfolgt. Es lohnt sich aber, jetzt noch einmal genauer hinzuschauen. „Eine Zukunft für unsere Vergangenheit“ war 1975 das Thema des ersten Europäischen Denkmalschutzjahres. Und tatsächlich folgten ein Paradigmenwechsel beim Umgang mit historischer Substanz und die Geburtsstunde der modernen Denkmalpflege. Heute sind Leidensdruck und Handlungsbedarf nicht so klar erkennbar und das Motto „Sharing Heritage“ klingt eher allgemein. Dabei geht es um eine Bewusstseinsbildung für den Wert des gebauten Bestandes als unser Erbe und als Teil unserer regionalen und europäischen Identität. Es stellen sich Fragen nach Sinn und Verantwortung mitten in einer wirtschaftlichen Boomphase, in der auch Architekten als Teil des Systems in Tagesroutinen untergehen können.
Deshalb kann die Schweizer Initiative und Einladung des amtierenden Bundespräsidenten Alain Berset im Januar nach Davos nicht hoch genug gewürdigt werden. Als Auftakt zum Kulturerbejahr trafen sich am Rande des Weltwirtschaftsforums die europäischen Kulturminister, um die Davos Declaration 2018 „Towards a high-quality Baukultur for Europe“ zu beraten und zu verabschieden. Dies geschehe, so wörtlich, „in dem Bewusstsein, dass sich überall in Europa ein allgemeiner Verlust an Qualität der gebauten Umwelt und der offenen Landschaften abzeichnet, was sich in einer Trivialisierung des Bauens, in fehlenden gestalterischen Werten und einem fehlenden Interesse für Nachhaltigkeit, in zunehmend gesichtslosen Agglomerationen und verantwortungslosem Landverbrauch, in einer Vernachlässigung des historischen Bestandes und im Verlust regionaler Identitäten und Traditionen zeigt“. Damit sind die Herausforderungen benannt und es wird klar: Es gibt Handlungsbedarf.
Allerdings sind die Zusammenhänge 2018 komplexer als 1975. Während damals Denkmal- oder Ensembleschutz die Antwort auf flächenhafte Abrisse war, wird heute Baukultur Ausdruck eines umfassenden Qualitätsanspruchs. Erstmals taucht der Begriff in einem internationalen Dokument auf, weil er besser als alle denkbaren Übersetzungen die Notwendigkeit zur fachübergreifenden Zusammenarbeit beschreibt.
Das trifft zunächst uneingeschränkt auf den Neubau und dessen Gestaltungspotenzial zu. Doch trotz der boomenden Neubaukonjunktur gehen schon heute zwei Drittel aller Bauinvestitionen in den Gebäudebestand und die Sanierung der Infrastruktur, mit steigender Tendenz. Auch hier müssen wir durch interdisziplinäre, mitdenkende Planungen eine neue Umbaukultur etablieren, die der „Trivialisierung des Bauens“ entgegentritt und direkte Mehrwerte für das Stadtbild und die öffentlichen Räume schafft.
Grund genug also, dem gebauten und unsere Umwelt prägenden Erbe und der Frage einer angemessenen Transformation des Bestandes in die Zukunft intensiver nachzugehen. Das wollen wir auch mit dem Baukulturbericht 2018/19 „Erbe – Bestand – Zukunft“ und seinen Handlungsempfehlungen erreichen. Beim Konvent der Baukultur am 6. und 7. November in Potsdam wollen wir gemeinsam darüber beraten.
Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur
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