Von Thomas Rogers
Zwei Tage vor der Eröffnung von Helsinkis neuer Zentralbibliothek Oodi Ende letzten Jahres steht die Direktorin Anna-Maria Soininvaara vor einigen der hochmodernen Geräte, die bald der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen sollen. Sie sei nicht ganz sicher, wozu all diese Apparate dienten, erklärt sie verlegen.
Unter den Geräten befinden sich unter anderem ein Laser-Cutter, computergesteuerte Stickmaschinen und Ausrüstung zur digitalen Holzbearbeitung. In einem verglasten Bereich im ersten Stock können die Bürger persönliche elektronische Gegenstände reparieren, indem sie auf dem 3D-Drucker Ersatzteile herstellen und diese zusammenlöten.
Frau Soininvaaras Unsicherheit ist verständlich: Die 59-Jährige, die seit drei Jahrzehnten im finnischen Bibliothekswesen arbeitet, ist eher eine Expertin für Literatur als für Hightech-Gravur, und Oodi – was auf Finnisch „Ode“ bedeutet – ist alles andere als eine normale Bibliothek. Bei der großen Bandbreite der angebotenen Leistungen kann man sich auch schon mal fragen, ob Oodi überhaupt als Bibliothek gelten kann.
Die Bibliothek neu erfinden
Die geschwungene, drei Stockwerke hohe Konstruktion aus Holz, Stahl und Glas sieht aus wie ein mit einer Eisschicht bedecktes Schiff. Das Projekt, das einschließlich der Geräte 98 Millionen Euro gekostet hat, ist einer der öffentlichen Bauten, die in den letzten Jahren mit größter Spannung erwartet wurden. Es ist der ambitionierte Versuch einer der gebildetsten und auf digitalem Gebiet versiertesten Nationen der Welt, die Bibliothek für die zukünftigen Bedürfnisse seiner Bürger neu zu erfinden.
„Bücher sind für eine Bibliothek wichtig, aber sie sind nicht alles“, so Soininvaara. Sie weist auf die Aufnahmestudios, die Küche, den Gaming-Raum mit PlayStation-Konsolen und einen „immersiven 3D-Raum“ hin, dessen Wände mit digitalen Projektionen erleuchtet werden können – gedacht für Künstler oder auch für Unternehmenspräsentationen.
Nach zwei Jahrzehnten Planung und Bürgerbeteiligung wurde jedes der drei Stockwerke so gebaut, dass es einen anderen Zweck für die Gesellschaft erfüllt. Das weitläufige Erdgeschoss, das ein Restaurant, ein Kino, ein Informationszentrum zur Europäischen Union und verschiedene für Konzerte geeignete Bereiche beherbergt, ist für Veranstaltungen gedacht, die den Kontakt der Einwohner Helsinkis untereinander fördern. Der erste Stock, in dem sich die elektronische Ausrüstung und die Arbeitsräume befinden, ist für laute und kreative Arbeiten gedacht, und der oberste Stock, ein offener, hell erleuchteter „Bücherhimmel“ mit weißen Regalreihen, ist ein konventioneller, wenn auch überaus geschmackvoller Lesesaal.
„Wir haben der Tatsache Rechnung getragen, dass sich Bibliotheken ständig ändern werden“, so Samuli Woolston, Partner bei ALA Architects, die das Gebäude entworfen und gebaut haben. „Sie werden bereits heute anders genutzt als noch vor zehn Jahren.“ Neue Funktionen können laut seiner Aussage leicht in das Design des Gebäudes integriert werden.
Soziale Integration
Tommi Laitio, Helsinkis Direktor für Kultur und Freizeit, erklärt, das Gebäude und sein umfassendes technologisches Angebot seien auch als Bollwerk gegen den Populismus gedacht. 2015 trat die rechtspopulistische Partei „Die Finnen“ (Perussuomalaiset) in eine Koalitionsregierung ein. Jussi Halla-aho, der Parteivorsitzende, argumentierte einmal, für die Lösung der griechischen Schuldenkrise wäre eine Militärjunta erforderlich, und er brachte den Islam mit Pädophilie in Verbindung.
„Es handelt sich hierbei zu großen Teilen um ein politisches Projekt“, erklärt Laitio. Er argumentiert, dass sich die Gefahren für die Demokratie auf der ganzen Welt in den letzten Jahren teilweise durch die Unsicherheit der Menschen gegenüber dem technologischen Fortschritt erklären ließen. Die Hightech-Ausstattung von Oodi soll diesen Ängsten etwas entgegensetzen. „Hier können Menschen die Zukunft erleben, sodass diese weniger bedrohlich wirkt“, erklärt er.
Finnlands hohe Investition in das öffentliche Bibliothekswesen ist das Gegenteil der Trends, die in den Vereinigten Staaten und Großbritannien zu beobachten sind, wo in den letzten Jahren viele Bibliotheken mit drastischen Budgetkürzungen konfrontiert waren. Im letzten Jahr hieß es in einer Kolumne im Guardian, die Kürzungen im britischen System, das sich immer mehr auf Freiwillige verlässt, seien so stark, dass „Großbritannien kein nationales Bibliothekswesen mehr besitzt“.
Oodi „passt sehr gut in das nordische Modell für funktionierende Gesellschaften“, so Laitio. „Hier leben nur wenige Menschen, deshalb müssen wir sicherstellen, dass jeder sein volles Potenzial entfalten kann.“
Mit ihren großzügigen, öffentlich finanzierten Leistungen legen die nordischen Länder großen Wert auf soziale Integration und Bildung; laut Zahlen des Institute of Museum and Library Services von 2014 gibt die finnische Regierung mehr als das Eineinhalbfache pro Kopf für Bibliotheken aus als die Vereinigten Staaten.
Die nordischen Länder sind mittlerweile führend in der Entwicklung von Bibliotheken. „Dokk1“, eine hochmoderne „Hybrid-Bibliothek“ mit „Makerspaces“, einem Passamt und einem Spielplatz, wurde 2015 im dänischen Aarhus eröffnet. Sie wurde ein Jahr später von der Internationalen Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen (IFLA) zur „Bibliothek des Jahres“ ernannt, und die Besucherzahlen sind stark gestiegen. Oslos neue Zentralbibliothek, die Anfang 2020 im Hafengebiet der norwegischen Hauptstadt eröffnet werden soll, soll ein Kino, einen Gaming-Bereich und einen Arbeitsraum zur Nutzung digitaler Geräte erhalten.
Die nordischen Länder haben die digitale Technologie schneller als die meisten anderen angenommen; Laitio geht davon aus, dass Oodi den Weg in die Zukunft für Bibliotheken auf der ganzen Welt weist, die aufgrund von Digitalisierung und Budgetkürzungen mit Problemen zu kämpfen hatten. Das Gebäude sei so gedacht, dass es als Coworking-Space und städtischer Treffpunkt genutzt werden kann, und es versucht, ein breites Spektrum von Bevölkerungsgruppen anzusprechen.
„Wir müssen sicherstellen, dass Bibliotheken nicht nur für Menschen interessant sind, die sich keine Bücher oder keinen Computer leisten können“, erklärt er. Nach einer zweitägigen Eröffnungsfeier mit Konzerten und Reden von Politikern, einschließlich des finnischen Präsidenten, hat Oodi nun den normalen Betrieb aufgenommen. Laut den Architekten wurde der Balkon des Gebäudes so gebaut, dass er auf der gleichen Ebene wie die Stufen zum Parlament auf der anderen Seite des Platzes liegt; eine symbolische Geste, die darauf hinweisen soll, dass Lernen in der finnischen Gesellschaft genauso wichtig ist wie Politik.
„Man glaubt oft, dass Dinge wie sozialer Zusammenhalt oder Demokratie nur leere Worte sind, aber an Orten wie diesen werden sie tatsächlich lebendig“, meint Laitio. „Für eine funktionierende Gemeinschaft braucht man eine soziale Infrastruktur. Man kann diese nicht auf Freundschaft oder der abstrakten Idee des Zusammenlebens aufbauen.“
© 2018 New York Times News Service
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