Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt!“ In diesen berühmten Seufzer von Jacques Delors, dem früheren Präsidenten der EU-Kommission und geistigen Vater eben jenes Binnenmarktes, stimmen viele ein, die mit seinen ausufernden Regelungen zu tun haben. Mehr noch: Soweit er uns Architektinnen und Architekten, Stadtplanerinnen und Stadtplaner betrifft, kann man wohl von einer handfesten Beziehungskrise sprechen. Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gegen die Mindest- und Höchstsätze der HOAI spricht der Generalanwalt unserer Honorarordnung jegliche Berechtigung für die Qualitätssicherung beim Bauen ab und hält die negativen Auswirkungen einer Abschaffung auf die Baukultur nicht einmal einer Erörterung wert. Ein anderes Vertrags-verletzungsverfahren strengt die EU-Kommission an, um die getrennte Berechnung von Auftragswerten bei nicht gleichartigen Planungsleistungen, wie sie die VGV für öffentliche Vergabe-verfahren vorsieht, zu unterbinden. Setzt sich die Kommission durch, müssen die Planungsleistungen für alle Bauvorhaben, deren Baukosten nur wenig über einer Million Euro liegen, europaweit ausgeschrieben werden. All das zur Belebung des europaweiten Dienstleistungsverkehrs.
Nun haben unsere europäischen Berufskollegen, deren Marktchancen angeblich verbessert werden sollen, keinerlei Probleme mit unserer HOAI. Viele wünschen sich sogar eine eigene Honorarordnung, um dem Preisdumping in ihren Ländern vorzubeugen. Kein einziger europäischer Kollege mehr als bisher wird sich an Vergabeverfahren in Deutschland beteiligen, nur weil faktisch die Schwellenwerte drastisch sinken. Dagegen sind die Angriffe auf vermeintliche Markthindernisse geeignet, bewährte mittelstandsfreundliche Strukturen zu zerstören, den Marktzugang für kleine und junge Büros zu erschweren und die Ausprägung einer hochwertigen regionalen Baukultur zu behindern. Die EU wirkt also gegen ihre eigenen Ziele. Kann man da nicht an diesem Europa verzweifeln?
Ja, man könnte! Aber der Rückzug in Nationalstaatlichkeit, wie er von Populisten propagiert wird, ist keine Lösung. Der Brexit zeigt es. Gerade die jungen Leute genießen die Freizügigkeit innerhalb der Union. Auch der Binnenmarkt hat viel zu unserem Wohlstand beigetragen und stärkt Europas Stellung in der Welt. Was allerdings fehlt, ist eine Justierung wirtschaftspolitischer Instrumente an übergeordneten gesellschaftlichen Zielen. In welchem Europa wollen wir leben? In dem einer reichen kulturellen Vielfalt, die Europa seit Jahrhunderten ausmacht, in dem einer sozialen Balance und gesellschaftlicher Teilhabe aller. Dafür muss Europa mehr Demokratie wagen.
Fordern wir sie ein! Sprechen Sie mit den Kandidaten zur Europawahl über deren Vorstellungen von der Zukunft Europas. Bringen Sie Ihre alltäglichen Probleme in die Diskussion ein. Entscheidungen auf europäischer Ebene greifen tief in unseren Alltag ein – und doch erscheint Brüssel oft als abgehobenes Raumschiff, das wenig Kontakt zur Lebenswirklichkeit der Menschen hat. Gemeinsam mit den Planerverbänden, der Bundesingenieurkammer und der Bundes-stiftung Baukultur haben wir Wahlprüf-steine erarbeitet, die Fragen an Europa aus unserer Arbeitswirklichkeit heraus formulieren. Die Antworten der Parteien werden in der Mai-Ausgabe des Deutschen Architektenblatts veröffentlicht. Ob sie bei Ihrer Wahlentscheidung helfen, liegt bei Ihnen. Wichtig aber ist, am 26. Mai zur Wahl zu gehen und darüber hinaus immer wieder deutlich zu machen, dass wir Bürgerinnen und Bürger dieses Europa mitgestalten wollen und mitgestalten müssen, wenn es eines Tages Liebe werden soll.
Ralf Niebergall, Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer