Von Rudolf Stumberger
Fujisawa ist eine Stadt mit rund 420.000 Einwohnern am Fuße des Fuji-Berges, etwa 50 Kilometer westlich von Tokio. Wie so oft in den dichtbesiedelten Ebenen Japans sind die Stadtgrenzen in dem Häusermeer kaum zu erkennen und die urbane Landschaft zieht sich entlang der Meeresküste. Auch hier findet der Besucher in den Straßen Phänomene, die dem Land einen sehr speziellen Charakter geben und es in mancher Hinsicht utopisch erscheinen lassen: Die Vielzahl an sirrenden Elektroautos etwa, die längst zum Alltag gehören. Ampeln, die je nach Farbschaltung entweder Kuckucksrufe oder Vogelgezwitscher von sich geben. Absperrbare Schirmständer an den Eingängen von Kaufhäusern und Hotels. Öffentliche Lautsprecher, aus denen entweder klassische Musik tönt oder jeden Tag um 17 Uhr die Mahnung an die Kinder, jetzt nach Hause zu gehen. Manchmal erscheint das Land wie ein einziger großer Disney-Park.
Smartes Suburbia
Dieser Eindruck verstärkt sich noch einmal, wenn man die Staatsstraße Nr. 30 entlangfährt, den Hikichi-Fluß überquert und kurz nach dem Mazda-Händler rechts abbiegt. „Fujisawa Sustainable Smart Town“ ist da auf einem Schild zu lesen und dann befindet man sich mitten in einem Zukunftsprojekt, das in Europa viel diskutiert und hier in bereits umgesetzt wurde: die nachhaltige und intelligente „smart city“.Auf einer Fläche von rund 190.000 Quadratmetern hat sie der Elektronikkonzern Panasonic Wirklichkeit werden lassen, mit Solarpanelen, Videokameras, energieautarken Häusern, ressourcensparenden Messsystemen, neuen Mobilitätskonzepten und Nachbarschaftsaktivitäten, wie Tanz- oder Kochkursen. „Beeindruckend“, befand zum Beispiel Satsuki Katayama, Staatsministerin für die Überwindung des Bevölkerungsschwundes und zur Stärkung der lokalen Wirtschaft bei ihrem Besuch im Dezember 2018. Der Grund des Besuches: Fujisawa wurde als eine „futuristische Stadt mit nachhaltigen Entwicklungszielen“ und als ein „Modellprojekt autonomer Gemeinschaft“ ausgezeichnet.
Der erste Eindruck von „Fujisawa SST“ (SST für: sustainable smart town) ist der einer amerikanischen Vorortsiedlung, nur dass die Häuser kleiner sind und wesentlich enger beieinander stehen. Gebaut wurde SST auf dem Gelände einer ehemaligen Fabrik, die 2007 ihre Tore schloss. Und Panasonic begann, hier rund 600 Einfamilienhäuser zu errichten, ein Projekt für die nächsten 100 Jahre und ein „Modell für die Stadt der Zukunft“.
Für Katastrophen gerüstet
Wenn Besucher kommen, um das Zukunftsprojekt zu besichtigen, dann schlägt die Stunde von Panasonic-Mitarbeiterin Noriko Inagaki. Sie erläutert das Konzept der Siedlung: „Die Herausforderung war, eine neue intelligente Stadt entstehen zu lassen, die auf aktuellem smarten Lifestyle beruht“. Und dieser Lifestyle umfasst fünf wichtige Schlagwörter: Gemeinschaft, Mobilität, Energie, Sicherheit, Gesundheit.
Wir machen uns auf zu einem Rundgang. Neben den schmalen Straßen mit den Reihenhäusern haben die Stadtplaner zwei Parks angelegt, hinzu kommen drei große Gebäude mit Verwaltungsräumen, Restaurants und Geschäften sowie ein Alten- und Kinderzentrum. Was in der Siedlung im Vergleich zur „normalen“ Stadt auffällt, ist das Fehlen der Strommasten. Denn in Japan hängen die Energiekabel in der Luft, anstatt in der Erde verlegt zu sein. Nicht so in Fujisawa SST.
Überhaupt ist die ganze Siedlung darauf angelegt, bei Naturkatastrophen wie etwa dem großen Erdbeben vom 11. März 2011 nicht von der Stromversorgung abgeschnitten zu sein. Solarpanele und Batterien können drei Tage lang Energieliefern. Und auch sonst ist man hier auf Notfälle eingestellt: Bänke aus Metall lassen sich in einen Grill verwandeln, im Boden sind unter einer Abdeckung Freilufttoiletten installiert und die beiden Parks dienen als Sammelstellen, falls die Erde wieder beben sollte.
75 Prozent Einsparung
Inzwischen sind wir im Kontrollzentrum der Zukunftsstadt angekommen. An die 20 Mitarbeiter beantworten Anfragen der Bewohner, machen Verwaltungsarbeit, studieren Daten zum Energieverbrauch. Noriko Inagaki greift nach einer Fernbedienung und auf einem Bildschirm werden die aktuellen technischen Verbrauchsdaten sichtbar. Eine Grafik stellt die Einsparung von CO2 (durch den geringen Energieverbrauch) dar: 75 Prozent gegenüber einem japanischen Durschnittshaus. Das ist besser als die Zielvorgabe von 70 Prozent. Möglich wird dies, da alle Häuser über vernetzte Solaranlagen, Batteriesets und ein Energiemanagement für alle Räume verfügen. Zum Energiesparen dient auch die räumliche Anordnung der Straßen und Häuser: Sie nimmt den Wind vom Meer als Kühlung auf und lässt das Sonnenlicht in die Räume. Die Straßenlaternen sind mit Bewegungssensoren ausgestattet, die das ansonsten auf Sparflamme laufende Licht erhöhen, wenn sich Passanten nähern. Es gibt noch weitere Zielmarken hinsichtlich Ressourcen. So soll der Wasserverbrauch um 30 Prozent gesenkt werden, vor allem durch den Einsatz von wassersparenden Haushaltsgeräten und der maximalen Ausnutzung des Regenwassers. Und für erneuerbare Energien gilt der Richtwert von 30 Prozent Nutzung.
Überwachung und Abschirmung
„Aber sehen wir uns doch ein derartiges Energiesparhaus einfach mal an“, schlägt Frau Inagaki vor und wir machen uns auf den Weg. Draußen auf der Straße wird ein weiteres Merkmal von Fujisawa SST deutlich: Die flächendeckende Überwachung mit Videokameras. „Die Sicherheit steht für die Bewohner ganz oben auf der Prioritätenliste“, erläutert dazu Airi Minobe von der Panasonic-Presseabteilung, auch sie ist mit dabei auf dem Rundgang durch die Musterstadt. Dass die Anwohner die Sicherheit vor Kriminalität derart wichtig nehmen, ist eigentlich verwunderlich. Gilt doch Japan im internationalen Vergleich als ein Ausnahme-Land mit sehr niedriger Kriminalitätsrate. Für Soziologen ist es eher rätselhaft, warum sich trotzdem viele Japaner unsicher fühlen. In Fujisawa SST jedenfalls verfolgt man mit der Videoüberwachung das Konzept einer „virtual gated town“, die 47 Kameras sollen massive Einzäunungen ersetzen, wodurch sich die Bewohner eingesperrt fühlen könnten.
Apropos Bewohner: „Nein, es ist leider nicht möglich mit einem ‚Resident’ zu sprechen“, sagt Pressedame Airi Minobe, „wir wollen so ihre Privatsphäre schützen“. Rund 3.000 Menschen wohnen in der Siedlung und warum? „Diese Menschen mögen die hier praktizierte ökologische Lebensart, sie schätzen die Sicherheit und viele auch die Nähe zum Meer, man kann hier gut surfen“, lautet die Antwort von Airi. Und dass hier Familien mit höheren Einkommen wohnen, machen die neben den Häusern geparkten Limousinen deutlich.
Vernetzung und Komfort
Thema Geld: Rund 500.000 Dollar kostet hier ein Einfamilienhaus mit 130 Quadratmetern Wohnfläche, etwa 15 Prozent mehr als das Durchschnittshaus in der Stadt. Eines der Häuser steht zum Verkauf und kann besichtigt werden. Wie in Japan üblich ziehen wir erst die Schuhe aus, bevor wir in das Wohnzimmer treten. Das Zimmer wird von einem sehr großen Bildschirm dominiert und Noriko Inagaki erläutert warum: „Über eine Internet-Plattform können alle Haushalte miteinander in Kontakt treten oder auf lokale Dienstleistungen zurückgreifen.“ Es ist das Prinzip der konsequenten Vernetzung. So können die Hausbewohner alle Daten zum Energieverbrauch in den einzelnen Räumen abfragen. Oder sich in die öffentliche Videoüberwachung einklinken und so kontrollieren, was der Nachwuchs auf der Straße treibt (!). Oder sich im Mobilitätszentrum der Siedlung ein Elektroauto oder -fahrrad für den Nachmittag reservieren.
Das Musterhaus umfasst neben dem Wohnzimmer im Erdgeschoss eine kleine Küche sowie das Badezimmer, im oberen Stockwerk befinden sich das Schlafzimmer, ein weiteres Bad sowie zwei kleinere Kinderzimmer. Und natürlich hat Panasonic hier seine Haushaltsgeräte und Unterhaltungselektronik installiert: Vom Beleuchtungsprogramm zum Einschlafen und Aufwachen bis hin zum Spiegel, der Schminktipps gibt, indem er das Gesicht in verschiedenen Varianten elektronisch verändert. Und dass der Konzern nicht nur elektronische Geräte, sondern auch ganze Häuser baut, wird einem spätestens klar, wenn man in Fujisawa SST eines davon gekauft hat.
Doch die Musterstadt der Zukunft setzt nicht nur auf Technologie. Eine große Rolle soll auch die Selbstorganisation der Bewohner spielen. So existiert ein „Town parent project“, in dem sich Bewohner und Vertreter der Stadt sowie die an der Siedlung beteiligten Firmen zu einem gegenseitigen Austausch treffen und im Committee Center finden kulturelle Veranstaltungen statt, zum Beispiel Tanzkurse. Und die Nähe von Seniorenwohnheim und Kindergarten soll das Miteinander der verschiedenen Generationen ermöglichen.
Japan ist mit Fujisawa SST einen Weg gegangen, der in Deutschland noch diskutiert wird. Unübersehbar ist bei der Mustersiedlung die Handschrift von Panasonic, die sich auch in den Häusern wiederfindet. In Deutschland steht dagegen die gesellschaftliche Debatte um die „smart city“ mehr unter ökologischen Aspekten und denen des Datenschutzes.
Hintergrund
Fujisawa SST wird betrieben von einem Firmen-Konsortium, dem die Panasonic Corporation vorsteht. Zu den Firmen gehören etwa die Telefongesellschaft NTTEast, das Transportunternehmen Yamato oder das Energieunternehmen Tokyo GAS. Die Firmen sind neben der Stadt Fujisawa auch in der Fujisawa SST Management Company vertreten, dieses Gremium verwaltet die Mustersiedlung.
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Sehr schöner und interessanter Artikel ich würde mich aber freuen, wenn noch etwas zur Gesundheit gesagt worden wäre, da es eines der fünf Schlagwörter ist.