Von Simone Kraft
Es gibt kein Haus ohne Schrift. Eine steile Behauptung? Oft fallen sie erst auf, wenn man gezielt darauf achtet: Zeichen und Symbole, Wörter und Ziffern. Von Namen und Hausnummern über Etagenbeschriftungen, von „Toilette“, „Fahrstuhl“ und „Notausgang“ bis hin zu farbig markierten Parkdecks oder, in den Stadtraum gedacht, Verkehrsschildern – visuelle Navigationshilfen sind überall. Oft ermöglichen sie die Orientierung im Raum erst. Ein nötiges, aber lästiges Anhängsel? Unstrittig ist: Ein gutes Orientierungssystem erleichtert nicht nur die Nutzung von Gebäuden, es bereichert sie auch – und wird allzu oft erst spät im Bauprozess bedacht.
Zurechtfinden im Campus
Wie eine kleine Stadt soll der neu entstehende W&W-Campus in Kornwestheim funktionieren. Um eine zentrale „Hauptstraße“ – eine Passage, die unter- und überirdisch begangen werden kann – gruppieren sich 14 Büroblöcke, ganz klassisch nach geraden und ungeraden Hausnummern sortiert, in denen die Wüstenrot & Württembergische (W&W) bis 2023 erstmals alle Unternehmen der Gruppe an einem Ort versammeln will. Rund 4.000 Arbeitsplätze wird der Campus dann bieten. Vier dieser Häuser stehen schon und sind seit Ende 2017 Testfeld für neue Arbeitswelten, die der Konzern schrittweise realisieren will. Räumlicher Flexibilität, multifunktionalen Teambüros, Desksharing und mobilem Arbeiten haben Ortner + Ortner Baukunst in ihrem Konzept des Campus einen Rahmen gegeben. Passend zum schwäbischen Bau-Finanzdienstleister wird kein Glaspalast auf die grüne Wiese gesetzt, sondern mehrere „Häusle“ werden gebaut, bodenständig erdfarben verklinkert, mit fünf Stockwerken nicht allzu hoch, funktional-praktisch mit modularen Gebäudeblöcken, in die – wie in einer Stadt – die verschiedenen Firmenbereiche einziehen werden. Wie findet man sich in so einer Anlage zurecht?
Die Lösung ist ebenso schwäbisch bodenständig wie schlau: Rechtwinklige Elemente aus zwei orangeroten quadratischen Flächen mit weißer Schrift in verschiedenen Größen – Vorbild war das charakteristische Firmenlogo – weisen den Weg. Sie können überall angebracht werden, an der Decke oder der Wand, übereck oder auf den Boden gestellt. Sie sind zurückhaltend und zugleich von überall zu sehen: So wird nicht nur konsequente Orientierung auf dem Campus möglich – wenn man das System der Nummerierungen einmal verstanden hat, erlaubt es ein schnelles Zurechtfinden –, sondern auch Identität geschaffen. Die reduzierte Signaletik transportiert das Firmengesicht nach innen und außen und sorgt für Wiedererkennbarkeit. Ergänzt wird das analoge um ein digitales Informationssystem im gleichen Duktus.
Erdacht hat dieses System das Stuttgarter büro uebele visuelle kommunikation, ein Spezialist für Orientierungssysteme. „Viele Gebäude sind nur ‚beschildert‘, ein gutes Orientierungssystem ist dagegen etwas völlig anderes! Es bietet nicht nur Hilfe, um von A nach B zu kommen, es kommuniziert auch den Unternehmenszweck oder erzählt etwas über den Ort, an dem man sich befindet“, erläutert Andreas Uebele, von dem auch die Eingangsthese stammt. „Diese ‚weiche‘ Ebene, die sich über die ‚harte‘ Information legt, ist Teil des Systems. Gut gemacht, ist sie ein eigenständiger Beitrag zur Architektur.“ Darüber hinaus kann ein solches System Räume auch „stimmen“, weiß der studierte Architekt, der erst später zum Kommunikationsdesign gefunden hat. In Kornwestheim gelingt dies durch weiß leuchtende „handgeschriebene“ Schriftzüge, die besondere Orte und die Hauseingänge markieren. Die weiche Linienführung bildet einen Kontrapunkt zur nüchternen Geometrie der Architektur und der Signaletik – eine Reminiszenz an den Klassiker des Urbanen, die Leuchttafel, die dem Campus ihr ganz eigenes Gesicht verleiht.
Starke Farben: Bei der Sanierung der Berliner Elisabeth Klinik wurde ein grafisches Wegeleitsystem installiert. (Klicken für mehr Bilder)
Informationshelfer
Ein wenig anders gelagert ist der Bedarf an Orientierung in einem Krankenhaus. Dorthin geht man selten in ruhiger Gemütslage. „Besonders im Krankenhaus unterstützt das Wege- und Leitsystem den ohnehin durch Krankheit belasteten Patienten darin, selbstständig seinen Weg in einer fremden Umgebung zu finden“, erläutert die Berliner Innenarchitektin Christa Fischer, deren interdisziplinäres Büro ein Gesamtkonzept für Innengestaltung und Wegeleitsysteme in der Evangelischen Elisabeth Klinik nah des Potsdamer Platz entwickelt hat. Dieses wurde über die letzten sechs Jahre hinweg im laufenden Betrieb schrittweise als Teil der umfangreichen Sanierung der Klinik umgesetzt.
Die wechselhafte Geschichte des 1837 gegründeten Hauses, nach der Charité zweitältestes Krankenhaus Berlins, lässt sich auch im Gebäudebestand ablesen. Christa Fischer Innenarchitekten haben für ihr „Make-over“ den Innenraum zunächst entfärbt, dann mit hellen Grautönen vereinheitlicht, um schließlich mit starken Farben die verschiedenen Stationen unverwechselbar zu markieren. Dazu tragen auch Bilddrucke bei, die thematische Bezüge zu den jeweiligen Stationen herstellen.
Hinzu kommt ein grafisches Wegeleitsystem in den Unternehmensfarben der Paul Gerhardt Diakonie (mittlerweile Johannesstift Diakonie), das durch Innen- und Außenbereiche führt; das mit alten Bäumen bestandene Außengelände wurde von der Landschaftsarchitektin Katrin Lesser „entrümpelt“ und in eine für alle zugängliche Parkanlage verwandelt. So entsteht auch hier, über die Orientierungsfunktion hinaus, Identifikation mit der Klinik. Wichtig zudem: Die Schilder können mit leicht austauschbaren Folienelementen nach Bedarf beschriftet werden, eine große Erleichterung im Klinikalltag, der von ständiger räumlicher Veränderung geprägt ist.
Viel Wert gelegt wurde zudem auf die Formulierung der Beschriftungen. „Sie müssen für Laien gut verständlich sein, gleichzeitig darf auf medizinisch korrekte Bezeichnungen nicht verzichtet werden, und persönliche Belange sind nicht zu unterschätzen. Auch der Vielsprachigkeit der Patienten wurde Rechnung getragen, acht Sprachen kamen zum Einsatz“, berichtet Fischer. „Des Weiteren wurde auf Ausgewogenheit zwischen Klartext und Zeichen (Icons) gesetzt.“ So helfen etwa in den Patientenzimmern kleine Piktogramme bei der Orientierung: Wo befinden sich die Blumenvasen, welcher Schrank gehört zu welchem Bett? Farbe, Schrift, Zeichen – die Bandbreite der Informationshelfer ist ein Angebot an die unterschiedlichen Arten des Wahrnehmens. Gute Orientierung gelingt, wenn sie die vielfältigen – und persönlichen – Ebenen des Verstehens und Sehens mitdenkt.
Motivierende Botschaften: Im Düsseldorfer „Horizon“ wird das architekturnahe Leitsystem mit Humor kombiniert. (Klicken für mehr Bilder)
Architektur erweitern
Um solch kommunikative Nachhaltigkeit mit Langzeitwirkung geht es auch nowakteufelknyrim. Das interdisziplinär aufgestellte Düsseldorfer Architektur-Design-Büro sagt: „Erst wenn Architektur und Orientierung ineinandergreifen, wird die Navigation selbstverständlich als Teil der Umgebung wahrgenommen. Erst dann wird der Weg zum Ziel erlebbar: mit allen Sinnen, in alle Richtungen, ökonomisch, barrierefrei und zeitgemäß.“ Das kann kräftig-knallend sein wie im „Horizon“, dem neuen Bürohochhaus von L’Oréal Deutschland in Düsseldorf (HPP Architekten), oder filigran-verspielt wie im Bürgeramt Neuss. Beide Systeme wurden in enger Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Räumen entwickelt.
Das Orientierungssystem des „Horizon“ nimmt dessen horizontale Fassadengliederung auf: Wie die Etagen-„Scheiben“ des Hochhauses werden auch die Infotafeln versetzt angebracht, die Displays zur Gebäudeübersicht sehen aus wie das Gebäude selbst. Besonderes Charakteristikum: Im Treppenhaus ist das Orientierungssystem zugleich als Motivationssystem konzipiert, das mit knalligen Farben, überraschenden Icons und einer Prise Humor an den Wänden zum Treppensteigen verleiten soll.
In Neuss wiederum wurde ein neues Raumgefüge geschaffen, das den bestehenden Großraum entzerrt und sich dabei an den alltäglichen Arbeitsabläufen vor Ort orientiert. Die Innengestaltung von UKW Innenarchitekten aus Krefeld hat Funktionszonen für Information, Warten und Arbeiten eingerichtet, eine Infotheke wurde als zentrale Anlaufstelle vorgeschaltet. Besonderes Augenmerk lag auf den bereits vorhandenen Farben und Materialien: Das neue Orientierungs- und Leitsystem spielt mit den Farben des Bestandes und setzt frische Akzente mit leichter Sprache und Symbolik, um eine bürgernahe Atmosphäre zu schaffen. Denn ein gutes Orientierungssystem ist weder Selbstzweck noch Anhängsel, sondern eine Erweiterung des architektonischen Gedankens, das auf die Architektur zu reagieren versteht.
Leiten oder orientieren?
Kommunikationsdesigner unterscheiden nach Anton Stankowski die Begriffe „Orientierungssystem“ und „Leitsystem“. Während „leiten“ als aktives Verb den Betrachter zum Objekt erklärt, das unselbstständig durch den Raum geführt wird, entwickelt das transitive Verb „sich orientieren“ eine andere Qualität: Hier werden passive Orientierungshilfen angeboten, derer sich der Besucher bei Bedarf bedienen kann. Ausgehend von diesem Verständnis liegen verschiedene Gestaltungsansätze zugrunde. Mehr dazu zum Nachlesen finden Sie in:
Andreas Uebele
Orientierungssysteme und
Signaletik. Führen – Finden – Fliehen
Verlag Hermann Schmidt, Mainz,
2006, 336 Seiten, 89 Euro
Mehr Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Orientierung
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