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Schule des Hinschauens

Wie begeistert man den Nachwuchs für Stadtplanung? Indem man persönliche Erfahrung mit Fachwissen verbindet – und die Ergebnisse ernst nimmt. Ein Brandenburger Projekt bringt dafür Schüler, Architektinnen, Lehrer, Politikerinnen und Planer zusammen

31.10.20197 Min. Kommentar schreiben

Von Jürgen Tietz

Was für eine famose Idee! Da sitzen Schüler, Lehrer, Politik und Verwaltung in einer öffentlichen Runde zusammen und reden über die gestaltete Umwelt ihrer Stadt. Was für eine großartige Erfahrung für alle Beteiligten, einschließlich der aufmerksam lauschenden Eltern. Seit meiner ersten Begegnung mit dem ungewöhnlichen Format der Brandenburger „Stadtentdecker“ habe ich diese niederschwellige baukulturelle Vermittlung ins Herz geschlossen. Denn sie ermöglicht nicht nur eine aktive Aneignung von Heimat durch die mitwirkenden Kinder und Jugendlichen, sondern sie schärft zudem ihre Wahrnehmung und damit ihr kritisches Bewusstsein für eine qualitätvoll gestaltete Umwelt.

„Am Anfang haben wir uns viel gestritten“, erzählt ein Schüler vom Spaziergang durch die Stadt, mit dem traditionell jedes Stadtentdecker-Projekt beginnt. Später sei man dann aber wieder zusammengekommen – und ­habe viel gelernt. Damit ist ganz knapp ­beschrieben, wie das Projekt in der Praxis funktioniert: Auf einem Spaziergang mit ­Architekten und Lehrern werden Kinder und Jugendliche dazu angeleitet, ihre unmittelbare Lebensumgebung, ihre Stadt, mit wachen Augen wahrzunehmen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Daraus ergeben sich Themen und Fragen, die in einer Projektgruppe gemeinsam mit Architekten bearbeitet werden. Die Ergebnisse ihres Schaffens – das reicht von Zeichnungen, Gesprächen oder Geschichten über Architekturmodelle bis zu Fotos oder Videos – präsentieren die Schüler später öffentlich. Zum Schluss debattieren sie mit ihren Lehrern, Politikern und anderen Verantwortlichen für Stadtplanung über ihre Ideen.

Intuition und Anleitung

Gebäude, Straßen, Plätze, Anlagen und Freiflächen sind für alle Stadtbewohner allgegenwärtig, auch für Kinder und Jugendliche. ­„Dieser Lebensraum wirkt sich auf ihre Kommunikation wie auch auf ihre persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten aus“, erläutert Architektin Sabine Thürigen, eine der Initiatorinnen. Das Projekt wurde 2013 von der Brandenburgischen Architektenkammer konzipiert, im Rahmen des von Kulturland Brandenburg initiierten Themenjahres „spiel und ernst – ernst und spiel. Kindheit in Brandenburg“. Den Anfang machten sieben Kommunen, mittlerweile können Schülerinnen und Schüler der Klassen 4 bis 12 landesweit Stadtentdecker werden. „Kinder und Jugendliche verbinden mit der gebauten Umgebung Gefühle, sie spüren intuitiv, wo sie sich wohlfühlen und wo nicht, und richten ihre Gewohnheiten daran aus“, erläutert Thürigen. Doch eine bewusste, sensible Wahrnehmung vorhandener oder auch fehlender Bauqualität und eine Auseinandersetzung mit ihr entwickelten sich kaum intuitiv: „Dazu bedarf es fachkundiger Anleitung, der Vermittlung von Wissen und persönlicher Erfahrungen, mit denen die Sinne geschärft, der Blick differenziert und ein Nachdenken angestoßen werden.“

Damit das funktioniert, arbeiten Schule, Architekten und Stadtverwaltung zusammen. Ein Moderatorenteam der Architektenkammer, eine pädagogische Fachkraft sowie ein oder zwei – zumeist ortsansässige – Architekten begleiten in der Regel eine Schulklasse über das ganze Projekt. Die beteiligten Architektinnen und Architekten arbeiten ehrenamtlich und erhalten eine Aufwandsentschädigung.

Der Ansatz ist ergebnisoffen, so können örtliche Bedingungen, Themen und Strukturen berücksichtigt werden. Das gilt ebenso für das jeweils unterschiedliche Alter und die verschiedenen Interessen der Schülerinnen und Schüler. „Architektur und Stadtentwicklung sind hervorragende Türöffner für fachübergreifendes Lernen“, sagt Pädagogin Mascha Kleinschmidt-Bräutigam, eine Mitinitiatorin des Projekts, die es auch fachlich begleitet. Wenn die Schüler zum Beispiel Interviews mit Bewohnern machen, sind spezifische Lerninhalte des Deutschunterrichts, möglicherweise auch des Geografie- oder Sachunterrichts, berührt, je nachdem, in welchem inhaltlichen Kontext und welcher Schulstufe die Befragung geschieht. Die Vorbereitung der öffentlichen Präsentation ist geradezu beispielhaft zugleich Sprach- und Medienbildung. „Neben klassischen Schulfächern wie etwa Deutsch oder Geschichte gehören Aspekte wie Demokratieerziehung, kulturelle Bildung, aber auch nachhaltige Entwicklung dazu“, berichtet Kleinschmidt-Bräutigam.

Bewerben können sich alle Schulen aus Brandenburg. Nach dem Eröffnungsgespräch mit Vertretern der jeweiligen Stadt, den Lehrern und projektbegleitenden Architekten heißt es auf dem ersten gemeinsamen Stadtspaziergang: „Augen auf!“ Dann erweist er sich als eine offene Schule des Hinschauens, des genauen Wahrnehmens, des Fragens und damit des aktiven Lernens. Dem Erkunden der gestalteten Umwelt schließt sich in der schulischen Projektwirklichkeit der Stadtentdecker eine längere, möglichst eigenständige Arbeitsphase an. Fragen werden gemeinsam beantwortet. Die Vielfalt der vorhandenen Inspirationen vor der Schultür ist dabei naturgemäß ebenso unerschöpflich wie die Möglichkeiten, den Ergebnissen anschließend eine Form zu verleihen, die alles andere als starr sein muss. Die Ergebnisse wurden schon geschrieben, gesungen, gemalt, gebastelt oder getanzt. Zum Beispiel wurde einmal ein Theaterstück über ein altes Haus aufgeführt: Das Haus erinnert sich an seine glücklichen Tage, an denen Menschen ein- und ausgingen, Kinder lachten. Nun steht es schon lange leer und wird immer trauriger. Es wünscht sich, wieder eine Bedeutung zu bekommen, möchte gern ein Café beherbergen und will sich vor allem für Kinder öffnen.

Aber Architektur steht auch ganz klassisch auf dem Programm: So hat beispielsweise eine 11. Klasse des Leibniz-Gymnasiums in Potsdam im Modell Neubauten auf bestehende Häuser gestapelt und ein ungeliebtes Hochhaus in einen Renaissance-Palast verwandelt. Letztlich handelt es sich bei den Stadtentdeckern um die Reinform jener ästhetischen Bildung, die den ganzen Menschen in seinem Umfeld verortet und wertschätzt: ganzheitliches Lernen in einer ganzheitlich begriffenen Umwelt.

Der Weg zu einer qualifizierten Partizipation

Über die Jahre haben Mascha Kleinschmidt-Bräutigam und Sabine Thürigen das Format der Stadtentdecker weiter professionalisiert. Ein zentraler Aspekt war dabei, die einzelnen Arbeitsphasen besser miteinander zu verzahnen und den Betreuerinnen und Betreuern aus Schule und Architekturwelt Arbeitshilfen zur Verfügung zu stellen, sodass sie bei ihrer aufwendigen Vermittlungsarbeit auf einem festeren Grund stehen. In einem Begleitheft sind nun Ratschläge für den Stadtspaziergang, Beispiele für die Verknüpfung des Projekts mit übergreifenden Themen, Tipps für das Geben und Nehmen von Rückmeldungen oder Anleitungen zur Gestaltung eines Plakats zusammengestellt.

Schließlich sind die Stadtentdecker offen angelegt: Es gibt keine punktgenauen Zielvorgaben, die abzuarbeiten sind. Das Konzept ist, die Kinder und Jugendlichen zu begleiten, während sie eigenständig arbeiten. Dahinter steht die Vorstellung eines freien Lernens, das natürlich nicht nur bei der Auseinandersetzung mit der gestalteten Umwelt anwendbar ist.

Den Schlusspunkt jedes Projektes setzen dann die öffentliche Präsentation und das Stadtentdecker-Gespräch, bei dem auch schon mal die Finger in die städtebaulichen Wunden einer Stadt gelegt werden, wie zum Beispiel in Frankfurt (Oder), wo Jugendliche deutlich den Mangel an kulturellen Angeboten für ihre Altersstufe zum Ausdruck bringen.

Ein wichtiger Baustein ist auch die Evaluation der Ergebnisse. Dafür gibt es zwei Arten von Rückmeldekarten: eine für den Rückblick auf das Projekt und eine für kritische Anmerkungen. Stets wird von den Schülerinnen und Schülern die Unterstützung durch die Architekten positiv hervorgehoben sowie die Möglichkeit, sich für ein Thema selbst zu entscheiden und in Gruppen zu arbeiten. Alle sind begeistert vom Stadtspaziergang und davon, ihre Heimatstadt besser kennengelernt zu haben. Es gibt wenige kritische Anmerkungen. Die, die am häufigsten genannt wird, lautet: „Wir möchten mehr Zeit für die Arbeit.“

Zum Abschluss gibt es dann für alle Teilnehmer eine Urkunde. Doch was jeder einzelne Schüler darüber hinaus aus seiner Stadtentdecker-Erfahrung mitnimmt, ist so unterschiedlich wie die einzelnen Teilnehmer. Durch das eigenständige, thematische Arbeiten eröffnen sich ihnen vollkommen neue Perspektiven. Im Zentrum stehen dabei die Fähigkeiten, Erfahrungen und Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen. Sie sollen über die Baukultur nicht nur ihre Umwelt besser kennenlernen, sondern auch sich selbst. Die Stadtentdecker erweisen sich dabei als Multiplikator der Baukultur in einer Stadtgesellschaft und ebnen zugleich den Weg zu einer qualifizierten Partizipation der Bürger.

Mehr Informationen auf der Website der Stadtentdecker

„Die Stadtentdecker“ ist ein Projekt der Brandenburgischen Architektenkammer gefördert durch das Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung (MIL) in Kooperation mit dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) unterstützt durch das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport (MBJS)

 

Weitere Beiträge zum Thema finden Sie in unserem Schwerpunkt Kinder

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