Solange man entwirft, ist noch alles möglich. Doch wenn man sich für eine Lösung entschieden hat, muss man mit deren Vor- und Nachteilen leben. Oder? Ein Kölner Architekturbüro hat beschlossen, sich einfach nicht festzulegen
Von: Frank Maier-Solgk Frank Maier-Solgk ist von der Gartenkunst auf die Architektur gekommen....
Durch fahrbare Möbel entstanden ein besonnter Balkon und ein Bad mit Ausblick. (Klicken für mehr Bilder)
Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Sowohl als auch“ im Deutschen Architektenblatt 12.2019 erschienen.
Architektur ist auch eine Art von praktischer Wissenschaft. Ihre Aufgabe besteht nicht selten darin, den alltäglichen, den sogenannten „kleinen“ Wünschen und Bedürfnissen Raum zu geben, das heißt, eine Funktionsanalyse des Lebens aus humaner Perspektive vorzunehmen und dann entsprechende architektonische Lösungen zu finden. Zu solchen menschlichen Bedürfnissen kann zum Beispiel der frühabendliche Blick aus der Wohnung auf den Sonnenuntergang gehören, das kleine Stück heimischer Urlaubsatmosphäre, Stichwort Balkonien. Die „ungewöhnliche“ architektonische Leistung bestünde in solchen und ähnlichen Fällen dann darin, diesem Wunsch einen Raum zu schaffen, auch wenn eigentlich gar kein Platz hierfür vorhanden ist.
Das einschlägige Beispiel hierzu findet sich in einer innenstadtnahen, locker bebauten Siedlung aus den 1950er-Jahren in Köln. Es handelt sich um ein von einer dreiköpfigen Familie bewohntes Reihenhaus – Erdgeschoss, Obergeschoss und großes Satteldach (Neigung 32 Grad) –, dessen Problem darin bestand, dass die Erdgeschossräume ab dem frühen Nachmittag aufgrund des unmittelbar benachbarten Baumbestandes keine direkte Sonneneinstrahlung erhielten. Weder die Fassade noch die Raumaufteilung durften jedoch aus Denkmalschutzgründen verändert werden. Und in dem zwar geräumigen, aber niedrigen Dachraum, der über keinen Kniestock verfügte, waren ebenfalls nur kleinformatige Dachöffnungen zugelassen. Die entscheidende Frage für den Kölner Architekten Gerhard Kalhöfer bestand daher nicht nur darin, wie dieser Raum dennoch mehr Licht erhalten könne, sondern auch darin, Raumlösungen zu finden, die über den üblichen Stauraum hinaus zu einer Erweiterung der Nutzungsmöglichkeiten führen könnten.
Die gefundene Lösung bestand zunächst in der Vergrößerung der lichten Raumhöhe (dafür wurde der hohe Bestandsestrich weggebrochen und ein minimaler Estrich mit einer Epoxidharzbeschichtung aufgebracht). Der Clou aber bestand in einer Kombination aus Dachöffnung und flexiblen, weil mobilen Einbauvorrichtungen. In die nach Südwesten gerichtete Schräge wurden zwei größtmögliche separate Fenster (circa 90 Zentimeter Breite) mit nach außen (90 Grad) zu öffnenden Fensterflügeln eingebaut. Im Hinblick auf neue Nutzungen entwickelte der Architekt für den Innenraum zwei aus Stahlprofilen gebildete, an die Dachneigung und Breite der Fenster angepasste Gestelle, die sich entlang der Schräge verschieben lassen und den Gesamtraum neu strukturieren.
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Badewanne auf Rädern
Die eine Vorrichtung integriert eine Badewanne, die andere eine Kombination aus Sonnenschirm und Liegestuhl, die in das geöffnete Dachfenster hineingeschoben werden kann und für eine Person als Balkon beziehungsweise Leseplatz dient. Man habe, so Kalhöfer, bei dieser Vorrichtung an den Filmklassiker „Die Ferien des Monsieur Hulot“ gedacht, in dem die Dachkammer mit Blick aus dem Fenster auf Strand und Meer sich als vergnügliche Galerie erweist. In Köln entstanden aus einem bis dahin kaum genutzten Raum durch die Neuinterpretation des Fensters als Schnittstelle von innen und außen so zwei neue Funktionen – Bad mit Himmelsblick und Terrasse en miniature.
„Wir beginnen bei unseren Projekten oft mit einer Art Schwachstellenanalyse, das heißt mit der Frage, woran es bei einer gegebenen Situation liegt, dass die Wohnwünsche der Bauherren sich nicht erfüllen lassen“, erläutert Gerhard Kalhöfer. „Und dann suchen wir genau dafür Lösungen, die sich nicht auf nur eine von zwei scheinbar sich ausschließenden Alternativen beschränken, sondern die möglichst mehrere Aspekte verbinden. Wir suchen das ‚Sowohl-als-auch‘ anstatt das ‚Entweder-oder‘.“ Seit der Gründung des Büros 1995 durch Gerhard Kalhöfer und Stefan Korschildgen, zunächst in Aachen und Paris, seit 2000 in Köln, zeichnen sich ihre Projekte – häufig sind es Wohnbauten – durch eine experimentelle Grundhaltung aus, die ungewöhnliche Lösungen sucht und dabei immer wieder den Faktor Mobilität ins Zentrum stellt. Nach Kalhöfer kann Architektur durch eine durchdachte Anwendung der Idee der Mobilität, das heißt im Endeffekt häufig durch eine temporäre Orientierung, an Möglichkeiten nur gewinnen.
Fahrt ins Grüne
Charakteristisch für die Herangehensweise des Büros war bereits eines seiner allerersten Projekte, die Erweiterung eines bergischen Fachwerkhauses in Remscheid. Auch hier war der Ausgangspunkt eine Analyse der räumlichen Situation, die ähnlich wie im Fall des dunklen Kölner Reihenhauses ein klar definierbares Defizit entdeckte. Das Haus im Grünen besaß auf seiner Rückseite aufgrund der Hanglage keine direkte Verbindung zwischen den Wohnräumen und dem Garten. Die vom Bauherrn gewünschte Erweiterung durch einen zusätzlichen Raum wurde daher zusätzlich zu einer neuen Anbindung an den Garten genutzt, wobei der Anbau, von den Planern „Fahrt ins Grüne“ genannt, als provisorische, das heißt mobile Kopie eines bereits bestehenden Garagenanbaus entworfen wurde, die je nach Jahreszeit ihre Position verändern konnte. Auf einer Schienenkonstruktion lässt sich der neue Raum von einem Winterparkplatz, der an den Bestandsbau anschließt, in eine Sommerposition näher an den Bäumen rollen, die dann eine Terrasse freilegt.
Mobile Amtsstube
Das Thema Mobilität etwas freier interpretiert schließlich ein ganz aktuelles Projekt, das neue Bürgerbüro der Stadt Monheim. Kalhöfer-Korschildgen haben hierbei in der Stadt am Rhein die Kontrastfolie zum üblichen grauen Verwaltungsraum geschaffen: eine farbige, offene und zu viel Bewegung einladende Raumstruktur, die durch eine Vielzahl von gestalterischen Details einen Assoziationsraum schaffen will, der sich inhaltlich an der Geschichte des Städtchens orientiert. Im wörtlichen Sinn mobil sind in Monheim die individuell veränderbaren Arbeitsplätze, die sich je nach den gerade benötigten Serviceleistungen durch akustisch wirkende Schutzhüllen von der Umgebung abschließen oder – bei den Schnellschaltern mit Minimalangebot –offen in den Raum stellen lassen. Zudem sind sie von den Mitarbeitern höhenverstellbar: Die Obrigkeit begegnet dem Bürger je nach Belieben auf flexibler „Augenhöhe“. Ein großer Kinderbereich mit Leseecken macht aus meist ungeduldigen Kunden aktive, den Raum entdeckende neugierige Akteure. Inzwischen geben Eltern ihre Kinder auch hier ab, wenn sie in der Stadt Besorgungen erledigen. Monheim, Köln, Remscheid: Es sind Beispiele für ungewöhnliche Architektur als Lebenshilfe.
Projektteam „Urban Beach“ und „Rathaus Monheim“: David Ebel, Johannes Haucke, Gerhard Kalhöfer
Projektteam „Fahrt ins Grüne“; Gerhard Kalhöfer, Stefan Korschildgen, Andreas Hack
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