Betulich? Von wegen! Das traditionelle Material Reet wird immer öfter auch in zeitgenössischer Architektur eingesetzt – und entfaltet gerade im Zusammenspiel mit anderen Materialien eine eindrückliche Wirkung
Unter der mächtig wirkenden Reethaube lösen sich die Glasfronten des Doppelhauses von Henrik Becker optisch auf. (Klicken für mehr Bilder)
Dieser Beitrag ist unter dem Ttel „Gebündelt“ im Deutschen Architektenblatt 09.2020 erschienen.
Von Ulrich Höhns
Ein Bund Reet ist die Menge, die ein Schnitter mit seinen Händen umspannen kann, das sind ungefähr 60 Zentimeter Umfang. 20 Bunde sind ein Stieg, 100 ein Fimm. Für einen Quadratmeter eines Daches von 40 Zentimeter Stärke werden etwa 15 Bunde benötigt.
Reet wird nach wie vor als Dachdeckung traditionell verarbeitet, hinzu kommt stellenweise auch sein Einsatz als Wandverkleidung. Waren Reetdächer bis in das 20. Jahrhundert hinein in den Gegenden, wo geeignetes Schilf wächst, typisch nur für Bauten auf dem Land (vor allem bei kombinierten bäuerlichen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden sowie bei Scheunen und Ställen), so weitete sich die Typologie seit den 1930er-Jahren aus. Während des Nationalsozialismus entstehen vermehrt Einfamilienhäuser, kleine bis hin zu repräsentativen, deren traditionalistisch anmutende Naturdächer zuweilen sogar modernistische Grundrisse verstecken. Ein weiteres Einsatzfeld sind Wehrmachtsbauten in Küstenlandschaften, darunter auch Wohnhäuser. In den 1950er-Jahren erlebt das Reetdach bei „besseren“ Einfamilienhäusern eine kleine Renaissance. Villen und Jagdhäuser wohlhabender Bauherren sind in Norddeutschland beliebte Objekte für Reetdächer, die praktisch jede gewünschte Bungalow-Form organisch mitmachen und beliebig viele Gauben tragen können.
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Reethaube über Glasfronten
Seit einigen Jahren entstehen Häuser, die sich von der Betulichkeit „alter“ Formen lösen und einen freien Umgang mit dem Material Reet zeigen. Jenseits der stetig weiterlaufenden, um Traditionsbezüge bemühten Architekturen entwickeln sich nun auch ansehnliche Modernismen, die mit dem Material konstruktiv angemessen, formal aber explizit architekturbestimmt umgehen. Viele dieser kleinen und großen Häuser schöpfen ihre Aussagekraft in besonderem Maße aus dem Kontrast zwischen einem traditionellen, mit ländlichen Vergangenheitsbildern konnotierten Material, das nach wie vor für eine Verbindung mit dem Ort und der Region steht, und einer offenen, der Moderne zugewandten Gestaltung.
Ein gutes Beispiel für diese Verbindung von Tradition und Moderne ist das Holzhaus mit Reetdach, das der Hamburger Architekt Henrik Becker für eine ruhige Wohnstraße in Timmendorfer Strand entwarf. Bis zur Ostsee sind es 350 Meter. Ausgangspunkt für die Idee war ein kleines, reetgedecktes Sommerhaus, das die Bauherren-Familie dort in den 1950er-Jahren auf einem Wiesengrundstück errichtete, einfach in der Form und mitten in der Natur.
Umlaufende Holzterrassen lassen das neue Haus ein wenig über dem Garten schweben, geschützt durch das weit überstehende Dach. Über einer diffusionsoffenen Dachplatte mit Dachbahn und umlaufender Luftschicht liegt das Reetdach, das zugleich ein Wärmepuffer für das Holzhaus ist, das über kaum Speichermasse verfügt. Die großflächige, ungeteilte und über Eck geführte Verglasung der Haupträume im Erdgeschoss mit Holzfußböden und -decken sowie vertäfelten Wänden bewirkt ein Höchstmaß an Transparenz und Bezug zum Garten. Das Dach mit seinen beiden tief herabgezogenen Eingangsgauben scheint damit keine Verbindung zu haben. Die Kontrastwirkung zwischen der mächtigen Haube aus Reet und den immateriell scheinenden Glasfronten ist eindrücklich. Es ist ein Doppelhaus, mittig an der Längsachse geteilt, mit identischen Grundrissen bis unter den ausgebauten First. Darauf sitzen zwei an drei Seiten blechverkleidete Schein-Schornsteine, die als Formerinnerung an historische Vorbilder benötigt wurden, aber nicht dem Rauchabzug dienen. Eine ihrer Traufseiten ist jeweils verglast, sodass Tageslicht in die beiden schmalen Galerien ganz oben unter dem Dach gelangt.
In Rothenhusen wurde ein historisches Fachwerkhaus durch einen Neubau mit Reetfassade ergänzt, der erst auf den zweiten Blick auffällt. (Klicken für mehr Bilder)
Reetwand am Seeufer
Beckers Holzhaus in Timmendorfer Strand ist ein Neubau mit eigener Systematik. Eine halbe Fahrtstunde weiter südlich ging es dagegen um die Ergänzung eines historischen Fachwerkhauses. Hier wurde das Material Reet für eine Art „Camouflage“ genutzt: Das ehemalige Fährhaus Rothenhusen in Groß Sarau liegt auf einer Insel vor dem Nordufer des Ratzeburger Sees und ist schon seit langer Zeit ein Gasthaus.
Mißfeldt Kraß Architekten aus Lübeck sanierten den sehr kleinen Fachwerkbau und erweiterten ihn seitlich um einen lang gestreckten, schmalen Neubau mit integrierter Küche zu einem besonderen Gastraum, dessen Außenwand vollständig mit Reet bekleidet ist. Zum See hin öffnet sich der neue Baukörper, der nur ganz knapp an den Altbau anschließt, vollständig mit einer raumhohen Verglasung. Davor befindet sich die Außengastronomie. Auch das Flachdach bietet Platz für Tische und Sitzplätze. Eine schlanke Stahl-Außentreppe führt hinauf. Das Reet umschließt den Baukörper auf dreieckigem, sich zum Altbau hin verjüngenden Grundriss an der Eingangs- und Rückseite und zeichnet die Ecken materialgerecht abgerundet nach. Dieser ungewöhnliche Einsatz des Reets führt eine optisch klare, zugleich aber weiche Trennung vom Altbau herbei.
Die Lage des Hauses unmittelbar am Wasser verlangte geradezu nach Reet, auch wenn es nicht von hier stammt, sondern aus der Türkei geliefert wurde. Mit 140 Zentimetern ist es mittellang und gilt als besonders robust. Es wurde in einer Stärke von 30 Zentimetern direkt auf eine Dreischichtplatte mit untergelegter, diffusionsoffener Fassadenbahn gelegt. Gehalten wird es von einem Holzrahmenbau, was zur an diesem Ort unabdingbaren Gewichtsreduzierung beitrug. Weil auf eine Hinterlüftung verzichtet wurde, konnte das Reet in die Wärmedämmung eingerechnet werden.
Als Wandverkleidung entfaltet das Material eine farblich und stofflich angenehme Wirkung, wechselnd je nach Licht und Wetter. Als tragendes und sprechendes Architekturelement an einem besonderen und besonders dafür geeigneten Ort eingesetzt, wird es als altes Material zu einer neuen Ästhetik geführt.
Reetdach-Landschaft auf Sylt
In einem ganz anderen Maßstab arbeiten derzeit Ingenhoven architects mit dem Material. In List auf Sylt realisieren sie ein Bautenensemble unter Reetdächern für den „Lanserhof“, ein führendes Health-Resort mit Häusern in Österreich, England und Deutschland. Der große Komplex an der Ostküste der Insel ist zwar noch nicht fertiggestellt, aber ein Blick auf die Visualisierung der fertigen Gebäude zeigt, dass sie in diesem Kontext nicht fehlen sollten.
Das Projekt liegt in direkter Nachbarschaft einer ehemaligen Siedlung für Militärangehörige und eines auf einer Düne gelegenen ehemaligen Offizierskasinos, das in die Planung einbezogen ist; beide stammen aus der Zeit des Nationalsozialismus und sind mit Reet gedeckt. Neben ihnen entsteht das dreigliedrige Hauptgebäude des neuen „Resorts“, hinzu kommen kleinere, typologisch identische „Strandhäuser“.
Reetdächer sind in der Gemeinde für Neubauten vorgeschrieben. Die Entscheidung, welches Reet bei dem Resort-Neubau zum Einsatz kommt, hängt vom Ergebnis der noch laufenden ökologischen und technischen Zertifizierung des Materials ab. Regionale Reetdachdecker-Firmen sind ausgelastet und auch nicht auf einen Bau dieser Dimension eingestellt, sodass ein größeres dänisches Unternehmen den Zuschlag erhielt. Eine technologische und handwerkliche Herausforderung stellen tief in die Dachflächen eingeschnittene Loggien dar.
Die weich modellierte Reetdach-Landschaft des Haupthauses hoch auf einer Düne, in dem sich innen ebenso wie in den kleinen Bauten eine vollkommen moderne Architektur mit gläsernen Erdgeschoss-Ansichten entfaltet, schwingt mit der Topografie, fügt sich in die Dünenlandschaft ein und verschmilzt durch das Material, seine Farbigkeit und Struktur fast mit ihr. Große Teile der Infrastruktur der Bauten einschließlich Verkehrswegen und Parkplätzen sind tief im Dünensand untergebracht.
Wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sein werden, dann wird auf dem Hauptgebäude der Anlage das mit 6.000 Quadratmetern größte Reetdach Europas entstanden sein. Die Verknüpfung dieses Materials mit moderner Architektur wird mit Sicherheit für besondere Aufmerksamkeit in der Fachwelt sorgen.
Woher kommt das Reet?
War die Schilfernte noch bis in die 1960er-Jahre Winter-Handarbeit auf dem Land in den norddeutschen Küsten- und Wassergebieten sowie anderen Schilf-Gegenden wie am Bodensee, so wird der nachwachsende Naturstoff heute in anderen Ländern und vorwiegend maschinell abgebaut. Denn durch den radikalen Wandel in der Landwirtschaft, durch Eindeichungen, Landentwässerungen und Flussbegradigungen sind die Flächen in Deutschland stark geschrumpft und reichen für die wachsende Nachfrage nicht mehr aus. Was heute auf die Dächer neu-alter Häuser etwa auf Sylt kommt, die sich mit mehr oder weniger Erfolg in eine Friesenhaus-Tradition stellen, stammt aus Polen, Ungarn, Rumänien, der Türkei und zunehmend auch aus China.
Es gibt zahlreiche Fachfirmen, die es am Bau verarbeiten, dazu ein Netz von Großhändlern und Importeuren. Reet ist elastisch, haltbar, wasserabweisend, schädlingsresistent und vieles mehr – aber es muss trocken und ohne Verunreinigungen auf die Baustelle und dort dann sofort aufs Dach kommen. Ein Qualitätssiegel gibt es zwar noch nicht, aber viel Wissen und fachlichen Austausch unter den Beteiligten. Wenn alles richtig gemacht wird, hält ein gebundenes, geschraubtes oder genähtes Dach eine Generation und länger. Eine gute Lage zur Sonne, ausreichende Hinterlüftung, Abstand von Bäumen und eine Dachneigung von mindestens 45 Grad sind die wichtigsten Eckwerte für Sicherheit und Haltbarkeit.
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