Immer wieder neu bei Null anfangen – das war und ist die Wunschvorstellung vieler Architekten. Abriss oder Flächenfraß sind die Konsequenz. Dabei machen Umbau und Sanierung inzwischen bereits zwei Drittel der Bauleistung aus. Als Gestaltungsaufgabe ernst genommen werden sie indes noch immer nicht. Dies macht beispielweise der geringe Anteil deutlich, den das „Weiterbauen“ in der Hochschulausbildung einnimmt. Die mangelnde Auseinandersetzung mit unserem baulichen Erbe lässt leider auch die kreative Weltveränderung verkümmern, die bereits in Kindern angelegt ist.
Umbaukultur schon nach dem Krieg
Warum fällt uns der Umgang mit der bestehenden Architektur so schwer? Das fragen sich die Autoren der acht Aufsätze, die das erste Drittel dieses Buches ausmachen. Und sie finden viele, auch unterschiedliche Antworten. Natürlich ist da speziell in Deutschland die Kriegszerstörung zu nennen, die eine Tabula-rasa-Denke begünstigt hat und bis heute in die Baugesetzgebung hineinwirkt, wie Herausgeber Christoph Grafe und auch Andreas Hild in ihren Beiträgen feststellen. Dabei gab es selbst im Wiederaufbau Beispiele für eine behutsame, erinnernde Rekonstruktion, etwa bei Hans Döllgast, dessen die Narben des Krieges belassender Umbau der Alten Pinakothek in München kurz gezeigt wird.
Rekonstruktion ist No-Go
Doch die wichtigsten Impulse für eine Wertschätzung und Neuinterpretation auch des anonymen Bestandes kamen woanders her, etwa aus Italien, wo zum Beispiel Carlo Scarpa Zeitschichten gegeneinander zu setzen begann. Das beliebte Mittel der „Glasfuge“ zwischen Alt und Neu ist jedoch nur ein mögliches im Umgang mit Bestand – das arbeiten mehrere Beiträge schlüssig heraus. Rekonstruktion ist indes für alle ein No-go.
Rechtslage begünstigt Neubau
Ökonomisches Kalkül spielt eine wichtige Rolle: Nach spätestens sechzig Jahren ist Bausubstanz „abgeschrieben“, die Haustechnik in viel kürzerer Zeit veraltet, eine Anpassung an geltende Normen notwendig. Einschlägige Vorschriften, die stets die neueste Rechtslage absolut setzen, machen den Umbau deshalb oft kompliziert und unrentabel. Änderungen daran wären überfällig, aber wohl langwierig, wie Andreas Hild anmerkt.
130.000 Neubauten pro Jahr in Deutschland
Viele Neubau-Kosten werden überdies auf die Allgemeinheit abgewälzt, wie Hild und auch Muck Petzet deutlich machen, etwa der sehr hohe Energieaufwand des Betons oder die Deponierung des Bauschutts, der sich in Deutschland jährlich auf drei Tonnen pro Kopf summiert. Sieben Tonnen immer endlicher werdende Ressourcen pro Kopf benötigen die 130.000 Neubauten, die hierzulande jedes Jahr errichtet werden, trotz stagnierender Bevölkerung.
Aneignung durch Mithilfe
Dass Umbau handwerklich aufwändiger ist und damit teuer, muss aber nicht sein. Viele Arbeiten im Bestand können auch Ungelernte übernehmen, wie man nicht erst seit der Berliner Altbau-IBA weiß und wie es gleich die erste Bildstrecke im Buch belegt: mit den Heimatwerkern, einem Umbauprojekt mit Flüchtlingen im ostwestfälischen Nieheim, sowie den sehr erfolgreichen Klushuizen („Bastlerhäuser“) in Rotterdam. Das stiftet Identifikation, „Weltaneignung“, wie es Tim Rieniets nennt.
Umbaukultur kein Wohlstandsthema
Für die Landesinitiative Baukultur Nordrhein-Westfalen haben Tim Rienits und Christoph Grafe kompetente Autoren und 25 wegweisende Projekte versammelt, viele davon bezeichnenderweise nicht aus den Wohlstandszonen, wo der Neubau dominiert. Tief im Westen, in den Industriestädten NRWs und Belgiens, stehen die meisten Beispiele, aber auch in Wien und Madrid und in den Banlieues Westeuropas.
Umbaukultur als Alltagsthema
Es sind oft subtile Interventionen, die Spuren des Alten und den Umbauprozess selbst inszenieren, keine fertigen Werke sein wollen. Immer wichtiger wird aber auch die Weiterentwicklung des ungeliebten Nachkriegsbestandes, wo große Reserven und Potentiale zur Aneignung liegen. Die kreativen Beispiele dafür stammen bisher aus Frankreich und den Niederlanden.
Lesenswerte Texte und gut dokumentierte Projekte
So gibt der Sammelband viele Anstöße, praktische und konzeptionelle. Für letztere stehen hierzulande bekannte Vordenker wie Muck Petzet und Andreas Hild, aber auch Markus Jager und Andreas Müsseler. Erfreulich, dass das Buch auch die westeuropäischen Nachbarn einbezieht, die zum Thema viel zu bieten haben. Grafisch gehen die gehaltvollen Texte samt Illustrationen im Kleindruck fast unter, sie sind aber sämtlich lesenswert. Dafür sind die Beispiele teils umso größer aufgezogen, samt Grundrissen, schön gestaltet und kundig erläutert.
Baukultur Nordrhein-Westfalen, Christoph Grafe, Tim Rieniets (Hg.)
umbaukultur – Für eine Architektur des Veränderns
Verlag Kettler, 2020
264 Seiten, 34 Euro