Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Lüften im Wohnungsbau“ im Deutschen Architektenblatt 06.2021 erschienen.
Von Stefan Horschler, Oliver Solcher, Elke Schmitz
Wohnräume müssen belüftet werden können. Nach den technischen Regeln im Bauordnungsrecht dürfen dafür unterschiedliche Lüftungssysteme vorgesehen werden. Doch die Frage nach dem richtigen Lüftungskonzept und dem geeigneten Lüftungssystem ist seit Jahren umstritten. Kontrovers diskutiert werden besonders auch die Lüftungsmaßnahmen, die den Feuchteschutz der Wohnungen sicherstellen sollen. So meinen die einen, der sei nur nutzerunabhängig zu gewährleisten, andere halten dagegen das manuelle Öffnen der Fenster für ausreichend. Bei der ersten Variante wird in der Regel argumentiert, dass Nutzer nicht in der Lage seien, einen ausreichenden Luftwechsel über das Öffnen der Fenster sicherzustellen. Diese und andere Sichtweisen und Themen wurden nun in der „Studie zum Lüften von Wohnungen“ von den beteiligten Partnern differenziert hinterfragt und ein Merkblatt erarbeitet.
Die Studie entstand im Auftrag der Bundesarchitektenkammer und Länderarchitektenkammern, der Bundesingenieurkammer sowie einer Vielzahl von Verbänden der Bau- und Wohnungswirtschaft sowie Interessenverbänden der Lüftungsindustrie. Dabei wurden die Grundlagen zum Lüften anschaulich erläutert, bauordnungsrechtliche und normative Anforderungen berücksichtigt und zahlreiche Auslegungsbeispiele von Volumenströmen für die im Wohnungsbau üblichen Lüftungssysteme aufbereitet. Außerdem unterzog man das Thema einer juristischen Bewertung.
Manuelles Lüften durch Fensteröffnen ist zulässig
Die Ergebnisse der Studie, kurz zusammengefasst, sind: Es besteht kein bauordnungsrechtlicher oder baurechtlicher Zwang zu nutzerunabhängigen Lüftungssystemen. Nur fensterlose Küchen, Kochnischen, Bäder und Toilettenräume erfordern eine mechanische Lüftungsanlage. Bei allen anderen Räumen ist die Lüftung über manuell geöffnete Fenster ebenso zulässig wie eine apparative Lüftung über Außenbauteil-Luftdurchlässe oder ventilatorgestützte Geräte. Insbesondere für die Abfuhr sommerlicher Wärme und Neubaufeuchte wird in der Regel allein auf Fensterlüftung zurückgegriffen. Die mit geöffneten Fenstern hervorgerufenen Volumenströme können ebenso wie eine apparative Lüftung berechnet werden. Das „eine“ Lüftungssystem, das allgemeingültig empfohlen werden kann, gibt es jedoch nicht. Zu verschieden sind die Anforderungen und Befindlichkeiten von Auftraggebern und Nutzern.
Über Lüftungssysteme informieren
Dazu muss der Planer gemeinsam mit dem Auftraggeber die Anforderungen, die eine Lüftung erfüllen soll, unter Beachtung gesetzlicher Regelungen und der Nutzerbedürfnisse festlegen und ein Lüftungskonzept erstellen. Dazu gilt es, über die Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Lüftungssysteme zu informieren und dabei unter anderem über deren Eigenschaften, Folgen und Risiken aufzuklären. Dabei ist wichtig, dass das Lüftungskonzept nicht die Auslegung des Lüftungssystems und der notwendigen Volumenströme umfasst. Erst nachdem der Auftraggeber festgelegt hat, wie die Wohnräume belüftet werden sollen, kann dies bei der Planung des konkreten Lüftungssystems erfolgen.
Das Lüftungskonzept
Der Begriff Lüftungskonzept wird in der Baupraxis unterschiedlich interpretiert und ist inhaltlich nicht zwingend an die DIN 1946-6 gekoppelt. Im Kontext des neuen Merkblatts ermöglicht das Lüftungskonzept dem Auftraggeber, eine Entscheidung für oder gegen ein Lüftungssystem zu treffen. Dabei ist die Frage zu beantworten, wie ein konkretes Wohngebäude belüftet werden muss und kann. Das Lüftungskonzept muss Antworten auf folgende Fragen beinhalten:
- Was soll beziehungsweise muss durch das Lüften in diesem Gebäude erreicht werden?
- Welche Lüftungssysteme sind dafür geeignet?
- Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Wahl des Lüftungssystems?
Bei der Sichtweise der DIN 1946-6 muss insbesondere die Anrechnung des Außenluftvolumenstroms über Leckagen in der Gebäudehülle kritisch hinterfragt werden: Undichtheiten und über Infiltration hervorgerufene Volumenströme sind völlig ungeeignet, einen angemessenen Feuchteabtransport sicherzustellen, und können zu fatalen Feuchteschäden führen. Aus dem Dichtheitskennwert kann zudem nicht abgeleitet werden, wo Leckagen im Einzelnen vorhanden sind oder ob sie bautechnisch als „Lüftungsöffnung“ geeignet sind.
Geeignete Lüftungssysteme
In der Studie werden die üblicherweise eingesetzten Lüftungssysteme für Wohngebäude näher beschrieben. Dabei wurde herausgestellt, dass jedes mögliche Lüftungssystem mehr oder weniger nutzerabhängig ist. Bei der Fensterlüftung sind die Nutzer im Sommer und Winter vollständig für die Gewährleistung des Luftaustauschs verantwortlich. Aber auch wenn eine sogenannte nutzerunabhängige Lüftung vorgesehen wird, die zum Beispiel über ein Querlüftungssystem mit Außenbauteil-Luftdurchlässen die Lüftung zum Feuchteschutz gewährleistet, muss weiterhin eine manuelle Lüftung über Fenster stattfinden – zum Beispiel, wenn die Wäsche in der Wohnung getrocknet wird oder für den hygienisch notwendigen Luftaustausch. Auch bei einer ventilatorgestützten Lüftung müssen die Nutzer aktiv werden, denn zur Abfuhr von sommerlichen Wärmelasten muss gegebenenfalls eine nächtliche Lüftung über geöffnete Fenster erfolgen. Eine Einordnung und Bewertung erfolgt mithilfe einer Tabelle, die auch im Merkblatt enthalten ist. Anhand der darin aufgeführten Kriterien ist der Auftraggeber entscheidungsfähig zu machen.
Vertragsrechtliche Bedeutung des Bauordnungsrechts
Welche Haftungsrisiken bestehen bei der Erstellung von Lüftungskonzepten und wie sind diese zu vermeiden? Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich aus den bauordnungs- und vertragsrechtlichen Rahmenbedingungen. Aus diesen resultieren wesentliche Vertragspflichten und damit Handlungsanweisungen zur Risikominimierung.
Das Bauordnungsrecht einschließlich der Technischen Baubestimmungen (MVV/TB) sowie der in Bezug genommenen Normen (hier v. a. DIN 4108-2) ist zwingend zu beachten. Dessen Einhaltung ist daher stets Bestandteil der geschuldeten Leistung. Das Bauordnungsrecht beschränkt sich auf die Vorgabe von Schutzzielen und Zwecken der Wohnungslüftung, sodass es dem Anwender überlassen bleibt, wie diese sicherzustellen sind (Wahl von Nachweisverfahren und Lüftungssystem). Aus den normativ in Bezug genommenen Regelungsinhalten folgt die Planungsaufgabe, Nutzungsrandbedingungen in Abhängigkeit vom Einzelfall zu konkretisieren. Aus bauordnungs- und vertragsrechtlicher Sicht ist daher vom Planer zu prüfen, ob dies für die Ermittlung von notwendigen Luftwechseln zum Feuchteschutz und sonstigen Lüftungszwecken erforderlich ist.
Planer schulden ein funktionierendes Lüftungskonzept
Planer schulden ein funktionstaugliches Lüftungskonzept als Grundlage für ein funktionstaugliches Wohnungslüftungssystem. Die Planung ist mangelhaft, wenn das Lüftungskonzept nicht funktioniert, der Vertragszweck nicht erfüllt ist. Vertragszweck ist die Ermittlung von notwendigen Luftwechseln zum Feuchteschutz sowie sonstiger Lüftungszwecke als Voraussetzung für die Festlegung eines geeigneten Lüftungssystems. Es ist daher Aufgabe des Planers zu prüfen, welcher Leistungsumfang erforderlich ist, um das vereinbarte Ziel zu erreichen. Sowohl die anvisierten Vertragsziele – hier vor allem die jeweils konkreten Zwecke und Eigenschaften der Wohnungslüftung – als auch die „Wege zum Ziel“ (Leistungsumfang) sind planerisch zu erfassen und als „Sollbeschaffenheit des Lüftungskonzeptes“ zu vereinbaren.
Haftungskontrolle durch Aufklärung und Beratung
Aufklärungs- und Beratungsleistungen sind von zentraler Bedeutung für die rechtssichere Erstellung von Lüftungskonzepten. Dabei obliegt es dem Werkunternehmer, den „Weg zum Ziel“ zu kennen und etwaige diesbezügliche Risiken zu erkennen. Bei der Erstellung von Lüftungskonzepten gilt dies insbesondere im Hinblick auf die in Betracht kommenden Nachweisverfahren zur Ermittlung notwendiger Luftwechsel sowie die in der Folge möglichen Lüftungssysteme. Diesbezüglich sind Auftraggeber unter Zugrundelegung der konkreten Nutzungsrandbedingungen über jeweilige Vor- und Nachteile, Eigenschaften, Kosten, Zielkonflikte und anderes zu informieren. Planer müssen im Streitfall darlegen und beweisen, dass der Auftraggeber seine Entscheidung in Kenntnis von deren Bedeutung und Tragweite getroffen hat. Daher sollten Entscheidungsfindungsprozesse ebenso schriftlich dokumentiert werden wie die auftraggeberseitige Entscheidung als solche.
Inhalt, Umfang und Reichweite von Aufklärungs- und Beratungspflichten bestimmen sich nach den für die Willensbildung des Auftraggebers maßgeblichen Umständen des Einzelfalls. Wesentlich sind daher alle Informationen mit Bedeutung für die Entscheidungsfindung des Auftraggebers bezüglich Nachweisverfahren und Lüftungssystem. Aufklärungs- und Beratungsbedarf kann sich unter anderem schon daraus ergeben, dass sowohl lüftungstechnische Maßnahmen, die Fensterlüftung als auch deren Kombination bauordnungsrechtlich zulässig sind. Auch dass zur Lösung der Planungsaufgabe unterschiedliche Nachweisverfahren in Betracht kommen, ist mit Auftraggebern zu besprechen. Ebenso dürfte für die Willensbildung von Auftraggebern relevant sein, dass eine detaillierte Betrachtung der Nutzungsrandbedingungen in Abhängigkeit vom Einzelfall wesentlich zur Vermeidung von Feuchterisiken sowie der Optimierung energetischer Einsparpotenziale und der Baukosten dienen kann.
Unterschiedliche Auffassungen in Fachkreisen
Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass in Fachkreisen unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der „technischen“ Eignung der zur Verfügung stehenden Nachweisverfahren und möglichen Lüftungssysteme anzutreffen sind. Aktuell ist daher ungewiss, ob hier einschlägige normative Inhalte (DIN/TS 4108-8, DIN EN 16798-7, DIN 1946-6) den rechtlichen Status einer „anerkannten Regel der Technik“ im Streitfall für sich in Anspruch nehmen können. Folglich besteht für alle Baubeteiligte ein Beweisrisiko.
In dieser Sachlage ist haftungsrechtlich entscheidend, ob für den Planer mit der Anwendung eines Nachweisverfahrens erkennbar Risiken für die Sicherstellung notwendiger Luftwechsel zum Feuchteschutz und sonstiger Lüftungszwecke verbunden sind.
Auch unter diesem Aspekt des ungewissen „rechtlichen Status“ der hier einschlägigen Technischen Regeln/DIN-Normen sind Auftraggeber auf Grundlage von Aufklärung und Beratung in die Lage zu versetzen, eine Entscheidung für oder gegen ein Nachweisverfahren sowie für oder gegen ein bestimmtes Lüftungssystem zu treffen.
Rechtliches Fazit
Die Befassung mit den Nutzungsanforderungen stellt sich daher auch aus rechtlicher Sicht als zentrale Einflussgröße für Planungs- und Rechtssicherheit dar. Zugleich kann nur auf dieser Grundlage sichergestellt werden, dass das gewählte Lüftungssystem auch unter dem Einfluss des „realen“ Nutzers funktioniert.
Stefan Horschler ist Inhaber des Büros für Bauphysik in Hannover, Oliver Solcher ist Inhaber des Ingenieurbüros für Wärmetechnik sowie Geschäftsführer des Fachverbands Luftdichtheit im Bauwesen in Berlin, Elke Schmitz ist Inhaberin der Rechtsanwaltskanzlei Schmitz in Bremen
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Download: Studie und Merkblatt zum Lüften im Wohnungsbau
Das kostenlose Merkblatt zum Lüften im Wohnungsbau erklärt die Grundlagen des Lüftens, baurechtliche Vorgaben und Normen sowie die für Wohnräume zur Verfügung stehenden Lüftungsoptionen. Die zugrunde liegende Studie zum Lüften im Wohnungsbau enthält darüber hinaus zahlreiche Berechnungsbeispiele und einen rechtlichen Teil zu Haftungsrisiken bei der Erstellung von Lüftungskonzepten. Weitere Planungshinweise gibt die Tabelle Wegweiser für die Systemwahl.
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Zucker, Diesel, Glyphosat – und jetzt ein „Gutachten“ und „Merkblatt“ der Architektenkammern und der Bauwirtschaft, um Fensterlüften zu legitimieren. Nicht ohne die Verantwortung den Auftraggebern und den Nutzern zu überlassen. So schleichen sich die Planer aus der Verantwortung für gutes Wohnen und den Klimaschutz.
Kontrollierte Be- und Entlüftung mit Wärmerückgewinnung ist erforderlich für die Energieeinsparung.
Es stimmt eben nicht, dass jedes Lüftungssystem nutzerabhängig ist – das gilt in erster Linie für das Fensterlüften.
Die empirischen Untersuchungen zeigen, dass in der Befragung nur kurz gelüftet wird, aber die Messungen zeigen, dass Fenster stundenlang gekippt bleiben und viel Energie verloren geht.
Und wie soll jemand nachts mit Fensteröffnung lüften, wenn er an einer lauten und schmutzigen Straße wohnt?
Man spürt einen „ideologischen Kern“ bezüglich des Streitthemas Lüftung bei der Bundesarchitektenkammer. Hier schien ja im Vordergrund zu stehen, die Fensterlüftung als Regelkonzept zu etablieren. Das ist mit mehreren Problemen, gerade für uns Planer verbunden. Zunächst eine Klarstellung: Fensterlüftung in Wohngebäuden ist ein MUSS, gerade auch in Passivhäusern. Wir brauchen sie in den Übergangszeiten und noch mehr im Sommer, um die Gebäude behaglich zu halten. Im Winter ist es jedoch aus Nutzersicht extrem schwierig, das „richtige Maß“ zu finden. Das liegt v.a. daran, dass wir keine Möglichkeit haben, die Luftqualität wahrzunehmen. Daher ist im Regelfall dann doch eine mechanische Lüftung als Ergänzung notwendig. Wenn dann noch eine Wärmerückgewinnung hinzutritt gibt es zudem noch einen Energieeinspareffekt. Auch hier ist es alles andere als trivial den „richtigen“ Luftwechsel zu bestimmen, denn dieser ist von Belegung, Aufenthaltsdauern und Feuchtelasten usw. abhängig. I.d.R. sind aber geringe, dafür aber stetige Luftwechsel besser als jedes Stoßlüften. Im Holzbau kommt hinzu, dass hier hohe Feuchtelasten dann wirklich zum Problem werden können (Stichpunkt: Flachdächer). Die Voreingenommenheit der Bundesarchitektenkammer (vielleicht durch ihre Parteinahme für „Einfach Bauen“) ist daher kritisch einzustufen.