Dieser Beitrag ist unter dem Titel „EuGH-Urteil auch zur HOAI 1996?“ im Deutschen Architektenblatt 07.2021 erschienen.
Von Gerd Motzke
In zwei Architektenverträgen aus den Jahren 2008 und 2010 vereinbarten ein Architekt und sein Auftraggeber ein Pauschalhonorar. In einer sogenannten Aufstockungsklage berief sich der klagende Architekt auf die Unwirksamkeit dieser Vereinbarung wegen Mindestsatzunterschreitung und begehrte das ihm nach dem gesetzlichen Preisrecht der HOAI zustehende Honorar. Mit einem Hinweisbeschluss hat das OLG Celle am 9. Dezember 2020 eine grundlegende Entscheidung dazu getroffen (Az.: 14 U 92/20).
2008 galt noch die HOAI 1996
Hinsichtlich des 2008 geschlossenen Vertrags spielt der Umstand eine entscheidungserhebliche Rolle, dass die damals gültige HOAI in der Fassung von 1996 (die in der Fassung von 2002 lediglich die Umstellung von DM auf Euro berücksichtigte und sonst inhaltlich nicht geändert wurde) in § 4 Abs. 2 die Unterschreitung der Mindestsätze auf Ausnahmefälle beschränkte und die Überschreitung der Höchstsätze in § 4 Abs. 3 nur ausnahmsweise, nämlich bei außergewöhnlichen oder ungewöhnlich lange dauernden Leistungen, für zulässig erklärte und hierfür eine schriftliche Vereinbarung vorsah.
Die Unterschreitung der Mindestsätze hatte die Unwirksamkeit der Vereinbarung zur Folge. Denn gemäß § 4 Abs. 1 HOAI (1996/2002) richtete sich das Honorar nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze getroffen haben. Wurden diese Schranken nicht eingehalten, griff das insoweit zwingende Preisrecht der HOAI. Die Honorarvereinbarung war also unwirksam. Die HOAI in der Fassung von 2009 – gültig für den Vertrag von 2010 – sah Gleiches in § 7 Abs. 1, 6 vor.
Die Frage war, ob das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Juli 2019 (Az.: C-377/17, siehe „FAQ zur HOAI“) die Rechtsfindung beeinflussen konnte. Denn dieses Urteil hat festgestellt, die Bundesrepublik Deutschland habe mit der HOAI 2013 gegen Verpflichtungen aus der Dienstleistungsrichtlinie (Art. 15) verstoßen, da sie in § 7 verbindliche Honorare für Planungsleistungen durch die zwingenden Mindest- und Höchstsätze beibehalten hat. Diese Feststellung betrifft der Sache nach auch die HOAI in der Fassung von 2009.
Aufstockungsklage für Vertrag vor 2010 aussichtsreich
Das OLG Celle macht in seinem Hinweisbeschluss darauf aufmerksam, dass das genannte Urteil des EuGH die Rechtsfindung bezüglich des Vertrags aus dem Jahr 2008 nicht beeinflusst. Grund dafür ist, dass zum Zeitpunkt der Honorarvereinbarung die angeführte Dienstleistungsrichtlinie noch nicht umzusetzen war. In ihr ist das Gebot enthalten, dass Mindest- und Höchstsätze nur dann zulässig sind, wenn diese keine diskriminierende Wirkung entfalten, durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Zwar stammt die Dienstleistungsrichtlinie vom 12. Dezember 2006, ihre Umsetzungsfrist lief aber bis zum 28. Dezember 2009. Mit der HOAI in den Fassungen von 1996 beziehungsweise 2002 hat die Bundesrepublik Deutschland deshalb nicht gegen eine sogenannte Vor- oder Sperrwirkung der Dienstleistungsrichtlinie verstoßen.
Aus diesen Gründen formuliert das OLG Celle den amtlichen Leitsatz: „Die Dienstleistungsrichtlinie findet keine Anwendung auf Vertragsverhältnisse, die während der Umsetzungsfrist der Richtlinie (.…) entstanden sind. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 4. Juli 2019 (…) betrifft daher grundsätzlich keine Sachverhalte, auf die die HOAI 1996/2002 Anwendung findet (Rn. 7–8).“
Die Folge ist, dass Honorarvereinbarungen, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie zum 28. Dezember 2009 unter Geltung der HOAI 1996/2002 geschlossen worden sind, daraufhin geprüft werden können, ob die Mindestsätze unterschritten oder die Höchstsätze überschritten werden, ohne dass die gesetzlichen Ausnahmetatbestände (s. o.) vorliegen. Die erhobene Aufstockungsklage bezüglich des Vertrags aus dem Jahr 2008 ist deshalb nicht von vornherein unbegründet.
Das OLG Celle hatte auch geprüft, ob andere EU-Regelungen gegen eine Anwendbarkeit der HOAI sprechen. Das Gericht verneint aber einen Verstoß der HOAI gegen die Niederlassungsfreiheit aus Art. 49 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) oder die Dienstleistungsfreiheit aus Art. 56 AEUV, weil der jeweilige Schutzbereich der Vorschrift nicht eröffnet ist. Dies wird damit begründet, dass der Schutzbereich der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nur grenzüberschreitende Fälle innerhalb des Binnenmarkts erfasst und damit rein interne Sachverhalte nicht erfasst werden.
Rechtslage für Verträge ab 2010 noch unklar
Ganz anders beurteilt das Gericht die Rechtslage bezüglich des Vertrags aus dem Jahr 2010. Die darin enthaltene Pauschalhonorarvereinbarung kam nach Ablauf der Umsetzungsfrist der Dienstleistungsrichtlinie und im Geltungszeitraum der HOAI 2009 (in Kraft getreten am 18. August 2009) zustande. Diesbezüglich formuliert das Gericht als Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit den zum Teil diametralen Positionen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft folgenden Leitsatz: „Im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung oder Rechtsfortbildung findet der verbindliche Preisrahmen der HOAI 2009 und 2013 auch ,zwischen Privaten‘ keine Anwendung (….).“ Das heißt konkret: Ein vereinbartes Pauschalhonorar bleibt auch bei Unterschreitung des gesetzlichen Mindesthonorars wirksam; eine sich am gesetzlichen Mindesthonorar ausrichtende Aufstockungsklage scheitert von vornherein, weil für diesen Zeitraum bereits rückwirkend das EuGH-Urteil greift (da die Dienstleistungsrichtlinie in Kraft ist). Ob diese Auffassung europarechtlicher Überprüfung standhält, ist allerdings noch nicht klar.
Der EuGH soll entscheiden
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Beschluss vom 14. Mai 2020 (Az.: VII ZR 174/19) einen ähnlichen Fall dem EuGH zur Entscheidung mit dem Ziel vorgelegt, Klarheit darüber zu erhalten, welche Auswirkungen das Unionsrecht auf der Grundlage des EuGH-Urteils vom 4. Juli 2019 auf Altfälle hat, denen Verträge zwischen Privaten zugrunde liegen, die unter der Geltung der HOAI 2009 und 2013 geschlossen wurden.
In diesem Beschluss formuliert der BGH genau entgegen dem zweiten zitierten Leitsatz des OLG Celle, eine Unverbindlichkeit der Mindestsätze verbiete sich angesichts des vom Gesetz- und Verordnungsgeber verfolgten Ziels, durch Mindestpreise Umfang und Qualität von Architekten- und Ingenieurleistungen zu gewährleisten und einen ungezügelten Preiswettbewerb zu vermeiden. § 7 HOAI lasse damit keinen Auslegungsspielraum. Würde eine an der Dienstleistungsrichtlinie ausgerichtete Auslegung erfolgen, stünde diese im klaren Widerspruch zum erkennbaren Willen des Gesetz- und Verordnungsgebers und wäre als Auslegung contra legem (gegen das Gesetz) des nationalen Rechts einzuordnen. Im Ergebnis neigt der BGH der Auffassung zu, dass Art. 15 der Dienstleistungsrichtlinie keine unmittelbare Wirkung in dem Sinne entfaltet, dass die nationalen Regelungen aus § 7 HOAI in laufenden Gerichtsverfahren nicht mehr angewendet werden können.
Ergebnis: Die Sache bleibt bis zur Entscheidung des EuGH offen und damit weiterhin streitig. Derzeit hat der EuGH geplant, dass die Schlussanträge in der Sache am 15. Juli verlesen werden. Eine Verschiebung dieses Termins wird aber für möglich bis wahrscheinlich gehalten.
Prof. Dr. Gerd Motzke ist Rechtsanwalt und war vormals Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München (Bausenat Augsburg)
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