Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Anklam baut um“ im Deutschen Architektenblatt 07.2021 erschienen.
Von Christina Gräwe
Großer Bahnhof an Gleis 2: Bürgermeister Michael Galander und der Geschäftsführer der Grundstücks- und Wohnungswirtschafts GmbH Anklam GWA, Thomas Riemer, erwarten die Autorin zum Stadtspaziergang. Der lohnt sich, denn Anklam in Mecklenburg-Vorpommern ist in Bewegung. Leiser, bedächtiger, aber in ähnlichem Umfang wie die Altstadt in Frankfurt am Main wird hier das Stadtzentrum sukzessive umgebaut – was einer Neuerfindung gleichkommt. Eine Parallele zu Frankfurt, wo auf einer Tabula rasa „kritisch rekonstruiert“ wurde, ist die Orientierung an historischen Bauten.
Attraktive Stadt statt Freilichtmuseum
Der Unterschied: Hier entsteht weniger ein Freilichtmuseum, hier sollen in erster Linie die Bewohner ein attraktives Stadtzentrum zurückerhalten. Daran arbeiten Galander und Riemer seit über 15 Jahren und sind, so wird die vierstündige Begegnung zeigen, mit Herzblut, Hartnäckigkeit sowie Begeisterungsfähigkeit dabei. Es mischt sich auch berechtigter Stolz in die Erzählungen: Mit dem bisher Erreichten bewarb sich Anklam beim Deutschen Städtebaupreis 2020, schaffte unter 81 Einreichungen den Sprung in die engere Wahl und wurde von der Jury mit einer Belobigung für ihre „Rückkehr zur vertikalen Stadt“ gewürdigt. Was es damit auf sich hat, soll der Rundgang erhellen. Der Zeitpunkt dafür ist glücklich gewählt, denn der Umbauprozess ist zwar weit fortgeschritten, aber noch nicht abgeschlossen, sodass sich verschiedene Stadien erkunden lassen.
Stadtumbau noch im Gange
Zunächst steigen wir ins Auto und nähern uns dem Kern des Geschehens von außen nach innen. So sieht man, was den Tagestouristen verborgen bleibt: die Vielfalt der Architekturen der Stadt, die von Gründerzeitvillen über Industriearchitektur des Neuen Bauens, eine sanierte Siedlung aus den 1930er-Jahren und Plattenbauzeilen bis hin zu eher austauschbaren Einfamilienhausansammlungen reicht. Wir umrunden die ehemals verkehrsdominierte Straßenkreuzung am Neuen Markt, wo durch einen Kreisverkehr nun wesentlich mehr Freiraum für Fußgänger entstanden ist. Die Maßnahme wurde 2008 abgeschlossen und war der Auftakt des Umbauprozesses.
Am Rathaus angekommen, setzen wir den Rundgang bei schönstem Frühlingswetter zu Fuß fort. Wir sehen historischen Bestand, der vom ehemaligen Reichtum der Hansestadt zeugt, darunter eines der ältesten Häuser, ein rührend windschiefes Gebäude mit gotischem Stufengiebel. Der Bürgermeister grüßt in alle Richtungen: Man kennt sich in der knapp 12.500 Einwohner zählenden Stadt, einem Mittelzentrum im Vokabular der Stadthierarchie.
Anklam stark kriegszerstört
Im Innenstadtbereich rund um den Marktplatz mit dem Rathaus aus den 1950er-Jahren befindet sich das eigentliche Ziel: das bis 2010 von Plattenbauten der Wohnbauserie 70 (WBS 70) geprägte Zentrum, für das die Stadt eine neue Idee entwickelt hat. Die WBS-70-Zeilen füllten seit den 1980er-Jahren die großen Lücken im stark kriegszerstörten Stadtbild, sie sollten die Blockränder nachempfinden. 20 Jahre später standen sie dem Wunsch, ein lebendiges Zentrum mit Nutzungsvielfalt zu etablieren, im Weg. „Hier war nichts, keine Läden, keine Gastronomie, mit Ausnahme einer Eisdiele“, schildern Galander und Riemer. Hierfür eine neue Vision zu entwickeln, war ein Kraftakt – die Wunschvorstellung dann aber auch umzusetzen, erforderte visionären Mut, Durchsetzungsvermögen und Vermittlungsgeschick in den Bürgerbeteiligungsverfahren. „Wir hatten Workshops mit weit über 100 Beteiligten, mit so viel Interesse hatten wir nicht gerechnet“, freut sich Michael Galander.
Sanierung oder Abriss der Plattenbauten
Am Anfang des neuen Kapitels in der Stadtbaugeschichte stand die grundsätzliche Frage: Sanierung oder Abriss der Platten? Die Antwort der Stadt war deutlich: Für eine wirkliche Transformation Anklams sollte das DDR-Erbe weichen; dass es in einem desolaten Zustand war, hat die Entscheidung erleichtert. Es blieben nur vereinzelte, sanierte Zeilen. In das „Integrierte Stadtentwicklungskonzept“ (kombiniert mit einem Einzelhandelsfachplan für die Nachfolgebebauung), das auch die noch laufenden und zukünftigen Projekte leitet, flossen die Stimmen der Kommune, der Öffentlichkeit und externer Fachleute ein. Es kristallisierten sich drei Eckpfeiler heraus: die Rückbesinnung auf traditionelle Architekturformen der mittelalterlichen Hansestadt, die Parzelle als Maßstab für die Neubauten sowie eine gemischte Eigentumsstruktur.
Parzellen mit verschiedenen Eigentümern
Die GWA ist die wichtigste Figur, aber auch private Eigentümer und die städtische Wohnungsbaugenossenschaft mischen sich unter die Akteure. Die Initiatoren versprechen sich positive Effekte: eine Wohnungsvielfalt (wenn auch teurer als bisher), attraktive Erdgeschossflächen für den Einzelhandel und Gastronomie (Nutzungen wie Versicherungsbüros sind rund um den Markt explizit nicht erwünscht) und die Aufwertung des öffentlichen Raums.
Neue Identität gewonnen
Wie ist die Zwischenbilanz? Die beiden Herren sind hochzufrieden: „Das Zentrum ist jetzt wieder belebt, sogar in Pandemiezeiten.“ Und, für den Bürgermeister besonders wichtig: „Die Menschen identifizieren sich mit ihrer Stadt.“ Sogar mit einer grobschlächtigen Bausünde aus den 1990er-Jahren, einem Einkaufszentrum am Südrand des Markts, zeigt er sich einigermaßen versöhnt. „Es steht zwar im Inneren weitgehend leer, aber die Erdgeschosszone ist zum Markt hin belebt.“
Belebte Erdgeschosse am Marktplatz
Eine lebendige Erdgeschossnutzung war auch für die Neubebauung der westlichen und östlichen Marktseite bindend. Bei aller Unterschiedlichkeit der Einzelarchitekturen sprechen die neuen Häuser die Sprache des Kriterienkatalogs. Geplant und gebaut wurde und wird für die Marktquartiere in drei Abschnitten. Die L-förmige Bebauung entlang der Keilstraße und westlichen Marktflanke, Q(uartier)1 genannt, wurde im Mai 2016 abgeschlossen; hier waren vorrangig die Ingenieurbüros D. Neuhaus & Partner und Matthias Kühn sowie das Ardes Planbüro UG beteiligt. Für die Abschnitte Q2 und Q3, den Block an der Ostseite sowie das benachbarte Grundstück, gewann das Hamburger Büro von Tchoban Voss Architekten 2013 den Wettbewerb für einen Masterplan, der sich dicht an die bestehenden Vorstellungen der Stadt anlehnt. Die Bebauung am Markt und an der Steinstraße wurde bis 2018 realisiert.
Dreigiebelhaus von Tchoban Voss
Das „Dreigiebelhaus“, ebenfalls ein Wettbewerbsgewinn von Tchoban Voss, fällt besonders ins Auge: Es ist ein zusammenhängendes Geschäfts- und Wohngebäude, wirkt aber zur Steinstraße hin wie drei aneinandergekuschelte Häuser. Als Nachbar eines roten Backsteinhauses mit Stufengiebel setzt es die Materialität fort, drittelt sich aber in einen graubraunen, einen roten und einen hellen Fassadenabschnitt. Den rückwärtigen Teil des Grundstücks belegt noch ein Parkplatz; die Lücke soll aber bald geschlossen werden. Tchoban Voss haben den Bauantrag für eine giebelständige Bebauung entlang der Brüder- und traufständige Häuser entlang der Nikolaikirchstraße mit Wohnungen und einer Bibliothek (Wettbewerb 2019, 1. Preis) abgegeben. Außerdem sind in Q2 wieder die Büros D. Neuhaus & Partner sowie Matthias Kühn und zusätzlich die PHS Planungsgesellschaft beteiligt.
Perspektivisch weiterer Abriss
Auch Q3 auf dem östlich benachbarten Grundstück ist bereits in Planung. Die vordere Zeile fehlt bereits. „Der Abriss der hinteren Zeile ist vorgesehen, wenn sie entweder einen relevanten Leerstand aufweist und/oder umfangreiche Sanierungsmaßnahmen notwendig werden“, berichtet Thomas Riemer, der auch hier wieder als Bauherr in enger Zusammenarbeit mit BIG Städtebau, einer treuhänderischen Sanierungsträgerin, und der Stadt Anklam auftritt. „Wir hoffen, hier wieder zum Zug zu kommen“, sagt Frank Focke, Projektleiter von Tchoban Voss. Ob es auch für Q3 einen Wettbewerb geben wird, sei offen. Den Prozess der Stadtreparatur würde er im Rollenmix aus Berater und Architekt gerne weiter begleiten. Seitens der Stadt ist ein Konzeptvergabeverfahren vorgesehen.
Nikolaikirche wird zum Lilienthal-Museum
Wir befinden uns mittlerweile zwischen Nikolaikirche und Steintor, beide Wahrzeichen Anklams. Die Kirche beherrscht als Ruine das Stadtbild und ist ein gutes Beispiel dafür, wie abseits der flächendeckenden Maßnahmen der Stadtumbau auch an einzelnen Gebäuden betrieben wird. Der beeindruckende Innenraum ist weitgehend leer geräumt und wartet darauf, nach Plänen von heneghan peng architects unter dem etwas bemühten Namen „Ikareum“ zum „Lilienthal Flight Museum“ umgebaut zu werden, denn Anklam ist die Heimatstadt von Gustav und Otto Lilienthal.
Gastronomie, Hotels und Wasserlagen
Ein weiteres ehrgeiziges Umbauvorhaben soll noch 2021 fertiggestellt werden: Die ehemalige Post, ein ehrwürdiges Backsteingebäude, wird zum Gastronomie- und Veranstaltungsbereich des direkt dahintergelegenen, neuen und bereits bezogenen Hotels „Anklamer Hof“. Nördlich des Zentrums fließt die Peene entlang attraktiver Wassergrundstücke. Eine Uferpromenade ist bereits angelegt. Hier sind unter dem Titel „Hansequartiere“ auf zwei Brachen am Südufer gemischte Nutzungen aus Wohnen, Gastronomie, Büros und einem Hotel geplant. Der Stadtumbau ist also beileibe noch nicht abgeschlossen.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Stadt bauen.
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