Nach 20 Jahren ist der internationale Hochschulwettbewerb für nachhaltiges Bauen 2021 erstmals nach Deutschland gekommen und orientiert sich neu. 18 studentische Teams aus elf Ländern planen und bauen die Stadt von morgen – und zwar in Wuppertal. Neu ist beim Solar Decathlon Europe dieses Mal das Ziel, die Energiewende in urbanen Quartieren voranzubringen. Es geht beim SDE 21/22 also weg von der einst namensgebenden Fokussierung auf Solarenergie, hin zu ganzheitlichen Ansätzen. Wie beim olympischen Zehnkampf messen sich die Teams in zehn Disziplinen.
„Neben technologischen und baulichen Innovationen ist vor allem ein gesellschaftliches Umdenken gefragt“, sagt Katharina Simon, Direktorin für Architektur und urbane Innovation des SDE 21/22 an der Bergischen Universität Wuppertal. „Mit der ersten urbanen Ausgabe des Solar Decathlon Europe setzen wir uns genau das zum Ziel.“ Ein Konsortium federführend geleitet von der Universität Wuppertal richtet und begleitet wissenschaftlich den vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderten SDE 21/22 aus.
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Die Mirke: Prototyp für urbane Transformation
„An Lösungen gegen den Klimawandel, Ressourcenverschwendung, Artenschwund und Bodenversiegelung sind wir Planerinnen und Planer unmittelbar beteiligt, der CO2-Ausstoß durch das Bauen beträgt rund 40 Prozent“, betont Andrea Gebhard, Präsidentin der Bundesarchitektenkammer. „So sind auch die Möglichkeiten enorm, dadurch hier den Klimawandel aufzuhalten und neue Wege zu gehen.“
Architektonischer Hintergrund des Wettbewerbs, Gegenstand einer sozialwissenschaftlichen Begleitforschung des SDE 21/22 und Austragungsort des Hauptevents im Sommer 2022 ist das Mirker Quartier. Es liegt zentral im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld, rund 8.600 Menschen leben dort. Die Mirke, wie das Quartier in Wuppertal auch genannt wird, besteht vor allem aus typischen Gründerzeitbauten, gemischt mit Nachkriegsgebäuden aus den 1950er- und 1960er-Jahren. Wie in vielen anderen Stadtteilen Deutschlands befinden die Wohnhäuser vor allem in einzelnem Privatbesitz – und aufgrund dieser kleinteiligen Besitzstruktur in sehr unterschiedlichen Zuständen. Dies erschwert Investitionen für energetische Sanierungen und Refinanzierungen.
„Kurz gesagt: Das Mirker Quartier zeigt die Umstände auf, die urbane Transformation schwierig machen – und steht damit repräsentativ für eine Vielzahl urbaner Quartiere in Deutschland und Europa“, sagt Simon. „Es bietet den Teams des SDE 21/22 die perfekte Grundlage, konkrete Lösungen für städtebauliche und sozio-ökonomische Herausforderungen der urbanen Energiewende zu entwickeln.“
Im Mirker Quartier dominiert Bestand aus der Gründer- und der Nachkriegszeit. © SDE-21-22 (Klicken für mehr Bilder)
Solar Decathlon: Potenzial im Bestand
Frühere Solar Decathlons widmeten sich vor allem dem Neubau von energetisch optimierten Einfamilienhäusern auf der grünen Wiese. Auch weil das Format ursprünglich aus den USA stammt. „Aber gerade in der Stadt und im Bestand schlummert gigantisches Potenzial“, betont die Direktorin für Architektur und urbane Innovation. „Im Rahmen des Wettbewerbs schlagen wir damit eine neue Richtung ein, die für unsere Energiewende vor dem Hintergrund des Klimawandels entscheidende Fortschritte verspricht.“ Den Teams war es freigestellt, alternativ eine vergleichbare Bauaufgabe aus ihrem Herkunftsland zu wählen. Elf von 18 Teams haben sich für diese Variante entschieden – wohl auch weil das eigentlich schon 2020 geplante Vorprogramm vor Ort wegen der Pandemie ausfallen musste und Reisen noch immer schwierig ist. Sieben Teams wählten jedoch das Mirker Quartier als Referenzquartier. Sie konnten aus drei Bauaufgaben wählen, die reale urbane Herausforderungen im Gebäudebestand abbilden:
- Sanierung und Erweiterung: Abhilfe bei unzureichender Wärmedämmung und starren Grundrissen schaffen.
- Baulückenschließung: die städtische Dichte erhöhen und das Stadtbild reparieren.
- Sanierung und Aufstockung: die städtische Dichte und die Nutzungsvielfalt erhöhen.
Präsentation auf dem Solar Campus
Am stillgelegten Mirker Bahnhof entsteht mit dem Solar Campus das 22.000 Quadratmeter große Wettbewerbsgelände des SDE 21/22. Dort, wo sonst üblicherweise Festivals und andere Großveranstaltungen stattfinden, bauen die Teams ab Mai 2022 ihre 18 voll funktionsfähigen, ein- bis zweistöckigen Wohngebäude auf. Vom 10. bis zum 26. Juni 2022 können Interessierte die Häuser besichtigen.
„Wenn Corona nicht dazwischenkommt“, so Simon, „rechnen wir mit bis zu 150.000 Besucherinnen und Besuchern.“ Von den Prototypen ausgehend werden Führungen und ein Rahmenprogramm die Energiewende thematisieren. Mit dem „Living Lab. NRW“, vom Land Nordrhein-Westfalen gefördert, werden acht der Demonstratoren auch nach dem SDE 21/22 zu Forschungszwecken für drei bis fünf Jahre auf dem Solar Campus belassen.
Begleitende Stadtforschung
Die erste urbane Ausgabe des Solar Decathlon Europe in Wuppertal wird von einem wissenschaftlichen Team begleitet, das am Beispiel des Mirker Quartiers untersucht, wie Leben, Arbeit und Freizeit zukünftig besser und nachhaltiger gestaltet werden können. Weiterhin bietet diese Forschung die Grundlage für die Frage, inwiefern der Wettbewerb den sogenannten „Mindchange“ beflügeln kann. Die Stadtforschung umfasst drei Bereiche:
Am Beispiel des Mirker Quartiers wird erstens untersucht, wie die räumlichen Arbeits- und Lebenswelten als Folge der Covid-19-Pandemie gestaltet werden können: „Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Lösungen aussehen müssen, um Leben, Arbeit, Freizeit und Gemeinschaft in Stadt und Quartier nachhaltiger und glücklicher zu gestalten“, erläutert Simon. Dafür führt das Team eine langfristig angesetzte Panelbefragung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern durch. So sollen Veränderungen in den Bedürfnissen und in den Anforderungen an das Quartier über die Zeit erfasst werden.
Da Bildung von zentraler Bedeutung für den Wandel hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft ist, nimmt das Stadtforschungsteam zweitens diese in den Fokus: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene werden für Themen wie Energiewende, zukünftiges Wohnen, energetische Sanierung und nachhaltige Stadtentwicklung sensibilisiert. In Workshops, Quartiersrundgängen, Videos und mithilfe weiterer Formate bereitet ein Education-Team die Themen so auf, dass sie an die Lebens- und Erfahrungswelten der jungen Menschen anknüpfen.
Drittens erhebt das Stadtforschungsteam in drei Befragungen, wie die Corona-Pandemie die Wohn-, Arbeits- und Lebensvorstellungen sowie -wünsche der Menschen im Quartier verändert hat: „Im Fokus steht dabei, wie ein Quartier von morgen – und nach Corona – aussehen muss, damit es ein gutes Leben für alle ermöglicht“, so Simon. „Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen die Möglichkeit erhalten, die Ergebnisse gemeinsam zu diskutieren und ihr Quartier aktiv mitzugestalten.“ Die Ergebnisse fließen wiederum in die kommunalen Planungen der Stadt sowie in die Arbeit lokaler Initiativen und Vereine ein.
Was ist der Solar Decathlon?
Der Solar Decathlon wurde vom US-Ministerium für Energie im Jahr 2002 erstmals als architektonischer sowie energietechnischer Wettbewerb ausgelobt. Er hatte das Ziel, ein energieautarkes Gebäude für das Wohnen im Jahre 2015 zu entwerfen. 2008 wurde mit dem Solar Decathlon Europe auch eine europäische Version des Wettbewerbs ausgelobt, dessen Ergebnisse im Jahr 2010 in Madrid erstmals präsentiert wurden. Der europäische Wettbewerb wird, wie auch der amerikanische, alle zwei Jahre im jährlichen Wechsel ausgetragen.
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