Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Freigeräumt“ im Deutschen Architektenblatt 01.2022 erschienen.
Von Olaf Bartels
Wie ein Keil schiebt sich die Kieler Förde in das Land und bringt die Ostsee direkt vor die Tore der Stadt. Aus Keil wurde Kiel – und die Landeshauptstadt Schleswig-Holsteins profitiert noch heute von ihrer Lage. Das Wasser erfährt man in der Stadt allerdings nur wenig. Vor allem in der Innenstadt verbreitete sich das maritime Flair bislang im Wesentlichen visuell. Zu sehen sind die Silhouetten der großen Schiffe und Werftkräne. Doch direkten Zugang zum Wasser hat man hier nur geschäftlich, nicht zum Vergnügen. Mit einer neuen Gestaltung des öffentlichen Raums am Rande der Altstadt wandelt sich das jetzt.
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Das Wassser kommt zurück
Ursprünglich war die Altstadt als Halbinsel von Wasser umgeben. Den sogenannten Bootshafen direkt an der Förde und den Kleinen Kiel, einen Süßwassersee am Rande der Altstadt, verband bis 1904 ein Kanal, der dann für eine rasante Stadtentwicklung zugeschüttet wurde. Bis 2020 verlief hier eine sechsspurige Straße, in deren Mitte ein Busknotenpunkt lag. Das ist jetzt in einem groß angelegten Umbauprojekt rückgängig gemacht worden. Zwischen der Alt- und der Vorstadt, wo sich die hauptsächlichen Einkaufszonen der Stadt befinden, ist anstelle der einstigen Verkehrsader eine Reihe von Wasserbecken entstanden.
Fleet, Kanal oder neuer Freiraum?
Die neue Anlage wurde zunächst als „Kleiner Kiel-Kanal“ bezeichnet, inzwischen heißt sie nach einem Vorschlag der Bürger „Holstenfleet“. Tatsächlich ist sie weder ein Fleet (tideabhängig) noch ein Kanal (künstlich angelegte Wasserverbindung). Hier wurde kein Wasserweg reaktiviert, wie beispielsweise im 200 Kilometer nördlich gelegenen dänischen Aarhus. Trotzdem bildet der von bgmr Landschaftsarchitekten gestaltete Stadtraum eine Oase in der steinernen Stadtwüste: mit Schilfrohrfiltration, Baumreihen aus ungarischen Linden und Sumpfeichen sowie den groß angelegten Beeten aus Gräsern und Stauden in großen Pflanztrögen.
Es gibt ausgedehnte Uferzonen mit Holzbänken und anderen Sitzmöglichkeiten sowie vielfältige Brücken, die von Sauerzapfe Architekten aus Berlin geplant wurden. Wasserspiele und Inseln ermöglichen es, die neue Anlage aktiv zu nutzen. Um die Inseln herum beträgt die Wassertiefe lediglich 50 Zentimeter. Hier lässt sich gut verweilen, direkt am Wasser sitzen und im Sommer auch ein kühlendes Fußbad nehmen. Abends ist der neue Raum mit Leuchten unter den Bänken und den Brückengeländern in ein dezentes indirektes Licht getaucht.
Autos an den Rand gedrängt
Der motorisierte Verkehr ist dabei nicht komplett verschwunden, er wurde aber neu geordnet und in die Randbereiche verwiesen, was wesentlich zur neuen Attraktivität des Raums beiträgt (Verkehrsplanung: Masuch + Olbrisch). Es kann überall flaniert werden. Die zentrale Busumsteigeanlage wurde aufgelöst, ihre Haltestellen wurden zum Rathaus und an andere Orte der Innenstadt verlegt. Parallel zu den Wasserbecken verläuft jetzt ein Verkehrsraum, der nur für Linienbusse, Taxen, Fahrräder oder zu Fuß nutzbar ist. Motorisierter Individualverkehr ist nicht zugelassen.
Shared space mit 800 Bussen am Tag
Um diesen Raum gestalterisch in die Anlage einzubeziehen, haben die Landschaftsarchitekten das Streifenmuster, das das Pflaster am Rande der Wasserplätze ziert, auf der Fahrbahn fortgeführt. Dafür ließen sie auf den Asphalt epoxidharzgebundene Feinsplitte auftragen und farblich so abstimmen, dass Streifen in drei verschiedenen Grautönen quer zur Fahrbahn verlaufen und optisch nahtlos in die Pflasterung übergehen. Allerdings verwischt der Reifenabrieb das Streifenmuster, sodass sich die Busse den Ort schon wieder ein wenig zurückerobert haben. 800 Linienbusse und diverse Taxen befahren diesen „shared space“ am Tag. Die Verkehrsfrequenz ist dennoch angenehm. Die Busfahrerinnen und -fahrer sind so rücksichtsvoll, dass der Raum problemlos und barrierefrei überquert werden kann.
Insgesamt ist die Anlage allerdings nicht barrierefrei, wenn auch weitgehend mit Rollstühlen befahrbar. Unerwartete Herausforderungen während der Bauzeit – wie alte Fundamente, die beim Ausheben der Becken auftauchten und nicht ohne Eingriff in die Tragstruktur der umgebenden Bebauung hätten entfernt werden können – ließen dies am Ende nicht mehr zu. Immerhin kommt man mit dem Rollstuhl direkt ans Wasser.
Große Öffentlichkeit
Der Umbau und sein Planungsaufwand waren – auch wenn man das jetzt nicht mehr vermutet – enorm. Seit 2013, also neun Jahre, haben bgmr Landschaftsarchitekten, insbesondere Dirk Christiansen und sein Team aus Berlin, an diesem Projekt gearbeitet, nachdem sie bereits 2012 den Wettbewerb gewonnen hatten. Die vorgesehenen und die durchgeführten Eingriffe in die Stadtstruktur waren erheblich und erzeugten eine relativ große Öffentlichkeit. Erregte Debatten machten an Stammtischen und in der lokalen Presse die Runde. Einige Falschinformationen kursierten.
Gegenwind und Bürgerbeteiligung
Schließlich mündete die Aufregung in einem Bürgerentscheid und einem intensiven Beteiligungsverfahren, das über die gesetzlich geforderte Mitbestimmung weit hinausging. Das Hamburger Büro Luchterhandt hat dieses Verfahren über ein Jahr betreut, ein Modell aufgestellt, ein Vorortbüro eingerichtet, Versammlungen aller Interessierten abgehalten und Veranstaltungen durchgeführt, sodass Bürgerinnen und Bürger kritische und konstruktive Anmerkungen machen konnten.
Ein Ortsbeirat begleitete diesen Prozess. Etwa 600 Eingaben habe es im Beteiligungsverfahren gegeben, berichtet Christiansen. Die wichtigsten Beschwerden waren, es werde zu viel Beton und zu wenig Holz und Grün verwendet, der Zugang zum Wasser sei gar nicht oder nur eingeschränkt möglich und es gebe zu wenige einfach anzueignende Sitzmöglichkeiten.
Gefühlt, so Dirk Christiansen, habe die Zustimmung zum Projekt zuvor 30 Prozent betragen und die Ablehnung 70 Prozent, heute sei dies umgekehrt. Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen auf den Stadtraum hätten dann, erzählt der Landschaftsarchitekt, die Notwendigkeit des Projektes noch einmal bestärkt und auch die Planung beflügelt. Die Einwände und die Vorschläge aus der Bürgerschaft hätten das Vorhaben weitergebracht.
Mehr Holz, mehr Wasserzugang
An dem ursprünglichen Vorentwurf hat das Team einige Korrekturen vorgenommen. Die Zugänglichkeit zum Wasser, die Wasserinseln, Wasserspiele, der verstärkte Einsatz von Holz als Baumaterial, die östlichen und westlichen Baumreihen, aber auch der zur Aktivität anregende Charakter der Anlage wäre ohne die Unterstützung aus der Bevölkerung wohl nicht so einfach umsetzbar gewesen. Das Verfahren habe zudem die Identifikation mit dem neuen Stadtraum sehr gesteigert – so weit, dass die örtliche Presse in einem Wettbewerb nach dem neuen Namen „Holstenfleet“ suchen konnte.
Vermeintliche Geldverschwendung zahlt sich aus
Mittlerweile ist das Holstenfleet mehrfach prämiert worden, unter anderem mit einer Auszeichnung beim Deutschen Landschaftsarchitektur Preis 2021. Die Einwände des Bundes der Steuerzahler verblassten dagegen. Er hatte das Vorhaben gleich zweimal in sein „Schwarzbuch“ aufgenommen, einmal wegen der langen Planungsphase und noch einmal wegen der eingetretenen Kostensteigerungen. Gekostet hat das Projekt rund 18,5 Millionen Euro, veranschlagt waren 11,5. Man kann nur hoffen, dass die hohe Identifikation mit dem Projekt in der Bevölkerung eine sorgsame und aufmerksame Nutzung zur Folge hat, die langfristig Kosten für Unterhalt und Reparatur senkt.
Klares Wasser dank Schilffilter
Die Wasserplätze ermöglichen den Kielerinnen und Kielern heute einen leichten Zugang zum oder ins Wasser. Der Inhalt der neuen Becken ist dabei so klar, dass man leicht den Boden in etwa ein Meter Tiefe ausmachen kann. Die Landschaftsarchitekten erreichen diese Wasserqualität durch eine mit Schilf bestückte Pflanzenfiltrationsanlage. Sie reinigt das latent überdüngte Süßwasser des Kleinen Kiels, das die neuen Becken speist. Vor Überflutungen braucht man hier übrigens keine Angst zu haben. Starkregenereignisse können die großen Wasserflächen des Kleinen Kiels abfangen. Und Ebbe und Flut fallen an der Ostsee weit weniger dramatisch aus als am Atlantik, an der Nordsee oder in Hamburg, wo Fluten weitaus stärkere Hochwasser bedingen können.
Mikroklima und Stressabbau
Der neue Stadtraum mit seinen Wasserplätzen ist ein Gewinn für die Stadt. Ihr steinernes Kontinuum ist an einer historisch bedeutsamen Stelle unterbrochen, der Innenstadtverkehr dort reduziert. Das neue Nass verbessert das Mikroklima – vor allem im Sommer. Die Besucher der Anlage können sich ein wenig vom Stadtstress ausruhen. Wird künftig die Querung der Rathausstraße zum Kleinen Kiel wie geplant einbezogen, ermöglicht dies einen Spazierweg um die Altstadt herum. Schon jetzt ist die neue Anlage ein Multitalent. Dafür war eine intensive Planung notwendig.
Weitere Beiträge finden Sie in unserem Schwerpunkt Verwandelt.
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