Europa hat, freiwillig und unfreiwillig, eine neue Phase seiner Geschichte eingeläutet. Erstmals kümmert sich die Staatenallianz ausdrücklich um die gebaute Umwelt als Teil einer umfassenderen Klimawandel- und Resilienzstrategie und die Chancen stehen nicht schlecht, dass Europa angesichts der Dringlichkeit zu neuer Geschlossenheit findet.
Jetzt, da die Klimakrise und ihre Konsequenzen gerade erst im Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten angekommen sind, werden wir in brutaler Konsequenz mit der Realität eines kriegerischen Überfalls auf ein souveränes europäisches Land konfrontiert. Angesichts dessen steht die europäische Sicherheitsarchitektur auf dem Prüfstand. Wir müssen dafür sorgen, dass die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels beim Planen und Bauen dennoch nicht aus dem Fokus gerät.
Europa als klimaneutraler Kontinent
Die Abkehr von der Nutzung fossiler Energien ist erste Pflicht. Europa soll nach dem Willen der EU-Kommission bis 2050 erster klimaneutraler Kontinent werden. Wir haben gelernt, dass insbesondere der Bausektor, und hier der Gebäudebestand, eine wesentliche Rolle spielt. Endlich wird dringender Änderungsbedarf europaweit anerkannt. Nach der inhaltlichen Debatte ist es nun aber allerhöchste Zeit, zu handeln.
Landschaftsarchitektur, Stadtplanung, Architektur und Innenarchitektur müssen als Disziplinen kraftvoll zusammenwirken. Gemeinsames Ziel muss sein, den technokratischen Ansatz in der Vergabe-, Energie- und Umweltpolitik in ein ressortübergreifendes kulturelles Projekt für eine lebenswerte Zukunft zu überführen. Dieser Wandel wird unsere Gesellschaft für die nächsten Jahrzehnte prägen, und er muss – auch wenn die russische Aggression hier eine gewaltige Scharte schlägt – auf eine qualitätsvolle, gesunde gebaute Umwelt für alle ausgerichtet sein. Dieser interdisziplinäre Ansatz wird der Motor für die zukünftige Baukultur sein.
Spanien bekommt ein Architekturgesetz
Die EU-Kommission hat im Bereich „Kultur“ selbst kein Eingriffsrecht, etwa über Richtlinien oder Verordnungen. Das ist originäres Recht der Mitgliedsstaaten. Deswegen arbeiten die Mitgliedsstaaten im Bereich Kultur freiwillig in sogenannten OMK-Gruppen, Arbeitsgruppen der offenen Methode der Koordinierung, zusammen und geben Empfehlungen heraus, die freiwillig in den einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden können, zum Beispiel als Gesetz auf nationaler Ebene. Diesen Weg hat Spanien gewählt. Dort steht das Parlament kurz davor, ein „Architekturgesetz“ zu verabschieden, in dem, insbesondere im Rahmen der öffentlichen Wettbewerbe, die Qualität und nicht der Preis eine Rolle spielt.
New European Bauhaus auf Ukraine ausdehnen
Auch wenn es kaum zu glauben ist: In den Gesprächen mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen in den letzten Wochen wurde deutlich, dass nichts so sehr gefürchtet wird wie der kulturelle Verlust, den dieser Krieg mit sich bringen könnte. Die ukrainische Kollegenschaft sorgt sich schon heute um den Wiederaufbau nach Ende des Krieges. Europa könnte ein starkes Zeichen der Solidarität setzen, indem Aktivitäten des New European Bauhaus auf das zerstörte Nachbarland ausgedehnt werden.
Baukultur zur europäischen Gesetzgebung machen
Künftig kommt es auf jede Einzelne und jeden Einzelnen an, auf jedes noch so überschaubare Planungskonzept, auf jede noch so kleine Planungsentscheidung. Der Paradigmenwechsel, bei dem „Baukultur“ vollständig in die Gesetzgebung (Green Deal und Renovierungswelle) und die EU-Debatten (Erklärung von Davos, Schlussfolgerungen des Rates und OMK-Bericht) integriert wird, bietet dem Berufsstand eine noch nie da gewesene Chance. Nutzen wir auch in schwierigen Zeiten diese Chancen, die sich uns bieten. Arbeiten wir gemeinsam und mutig an unser aller Zukunft!
Ruth Schagemann, Präsidentin des Architects Council of Europe