Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Recht und billig“ im Deutschen Architektenblatt 10.2022 erschienen.
Etwa ein Zehntel ihres Haushaltsbudgets geben die Deutschen im Schnitt für Essen aus, ein ganzes Stück weniger als die europäischen Nachbarn. Die Gründe dafür sind vielfältig; einer könnte sein, dass Deutschland die Heimat eines Verkaufs- beziehungsweise Handelsmodells ist, das bis heute Erfolgsgeschichte schreibt: Es ist der Discounter, der „Rabattgeber“, ein Prinzip, das 1962 mit der ersten Filiale der Brüder Karl und Theo Albrecht zum ersten Mal in Essen erprobt wurde. Das Reich der Albrechts, in Deutschland entlang der Ruhr in Nord und Süd aufgeteilt, gehört seither zu den Marktführern.
Konkurrenzkampf auch bei den Hauptverwaltungen
Ihnen auf den Fersen ist seit vielen Jahren ein Unternehmen aus Baden-Württemberg, dessen Name an dieser Stelle verschwiegen werden muss. Vor Kurzem haben sich die beiden Konkurrenten ein weiteres Mal gemessen, in diesem Fall mit neuen, architektonisch ambitionierten Büro- und Verwaltungszentren, die vor allem eines zu erkennen geben: Heute bemühen sich Unternehmen um ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, denen man Arbeitsplätze mit hoher Aufenthaltsqualität bieten muss.
Hinzu kommt inzwischen auch ein Angebot von verschiedenen Dienstleistungen und nicht zuletzt ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein, das sich in der Architektur spiegelt. Von billig und eng kann bei den beiden neuen Zentralen keine Rede mehr sein; die beiden Bürokomplexe in Essen und Baden-Württemberg sind „State of the Art“.
Kontrast der Standorte
Der Kontrast der Standorte könnte kaum größer sein. Das Grundstück der neuen Zentrale von Aldi Nord in Essen-Kray liegt nur einen Steinwurf entfernt von der A 40, der nie versiegenden Verkehrsader des Reviers; Gewerbegebäude bedecken die meisten Flächen der unmittelbaren Umgebung. Das neue Firmengelände des süddeutschen Kontrahenten hingegen liegt am Rande einer beschaulichen Stadt am Neckar und ist auf drei Seiten von Obstbaumwiesen und Feldern umgeben. Auf dem Grundstück in Essen hatte Aldi Nord zuvor ein Warenlager betrieben, das abgerissen wurde, während der noch vorhandene Verwaltungstrakt aus den 1960er-Jahren derzeit saniert wird.
Vergleichbare Gebäudekonzepte
Trotz dieser unterschiedlichen Ausgangslage und trotz der unterschiedlichen Gebäudekubatur sind die grundsätzlichen architektonischen Konzepte vergleichbar. Den Wettbewerb in Essen hatten 2016 BAID Architekten aus Hamburg gewonnen – mit einem mit seinen Flügeln weit ausgreifenden polymorphen Gebäudetrakt, der in einer klassisch modernen Architektursprache ausgeführt wurde. Die Idee von Kadawittfeld, die ihr Konzept im gleichen Jahr dem süddeutschen Bauherrn erfolgreich vermitteln konnten (Mehrfachbeauftragung als kooperatives Verfahren), folgt mit einem Ensemble aus fünf separaten Gebäuden mit jeweils unterschiedlichem Grundriss ebenfalls der Idee der Integration von innen und außen, der Symbiose von Architektur und Landschaft; sie wird in diesem Fall jedoch weit radikaler interpretiert.
Räumliche Organisation
Wer nach dem Muster eines Campus die Strukturen der Gebäude möglichst auf der Fläche verteilt, benötigt einen starken Mittelpunkt. Dieses Zentrum, das sich im einen Fall „Plaza“ nennt, im anderen Fall „Boulevard“, folgt bei Aldi Nord in Essen noch traditionell der Idee einer zentralen Versammlungshalle. Der süddeutsche Entwurf geht weiter und gruppiert fünf separate Gebäude um eine „Boulevard“-Ebene, gewissermaßen im Souterrain, die gemeinsame Funktionen aufnimmt und als Verteiler zu den einzelnen Häusern fungiert. Beide Firmenzentralen sind terrassiert, auch die Größenordnungen sind vergleichbar: Die Zentren bieten jeweils Raum für bis zu 1.500 Menschen, sind vor dem Hintergrund von Homeoffice und der zeitweiligen Anwesenheit von Arbeitskräften aus dem internationalen Filialnetz jedoch flexibel ausgelegt.
Gemeinsame Prioritäten
Das Grundstück von Aldi Nord ist rund 100.000 Quadratmeter groß, die Bruttogrundfläche (BGF) beträgt 112.000 Quadratmeter. Der süddeutsche Gegenentwurf besitzt eine BGF von rund 135.000 Quadratmetern. Die Parkplätze liegen jeweils unterirdisch; die Freiraumanlagen (WES Landschaftsarchitektur im Fall von Aldi Nord, Greenbox in Baden-Württemberg) betonen mit einer größeren Zahl neu gepflanzter Bäume, verschiedenen Separatgärten, begrünten Dächern (teils in Verbund mit Photovoltaikanlagen) und zwei Regenrückhaltebecken (Aldi) die sowohl ökologisch wie gestalterisch deutlich gestiegene Bedeutung landschaftlich geprägten Freiraums. In beiden Fällen betonen die Akteure die enge Zusammenarbeit zwischen Hochbau und Landschaftsarchitektur.
Campus mit Mitarbeiter-Angeboten
Im Übrigen wird in beiden Fällen den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen neben viel Platz und Co-Working-Space der Aufenthalt mit einer Vielzahl von zusätzlichen Dienstleistungen schmackhaft gemacht: Eine Kita oder ein Eltern-Kind-Büro ist bei beiden Projekten zu finden, ferner Fitness-Räume, zusätzliche Sportangebote im Außenbereich und ein moderner Hörsaal zur Weiterbildung. In Baden-Württemberg gibt es zudem einen „Pakadoo-Service“ zur Paketannahme im Büro, E-Bike-Ladestationen, einen Textilreinigungsservice und neuerdings auch ein vollständig autonomes elektrisch angetriebenes Shuttle, das Mitarbeiter vom Bahnhof ins Büro bringt.
Atrium mit Treppen und Emporen
Das Gebäudeensemble von Aldi mit den weit ausgreifenden Flügeln lässt die Grundrissfigur eines A mit verlängertem Querstrich erkennen. Es gewinnt sein einheitliches Erscheinungsbild durch die Bandfassaden aus abwechselnd weißen Aluminiumpaneelen und raumhohen dreifachverglasten Fensterelementen. Kern des Komplexes ist ein weiträumiges fünfstöckiges Atrium, das stützenfrei ausgeführt ist, von einem 170 Quadratmeter großen Glasdach belichtet wird und von Treppen, Emporen und einem auf Rundsäulen eingestellten Konferenztrakt funktional wie visuell abwechslungsreich gegliedert wird.
Historisches Büro von Theo Albrecht
Mit weißem Terrazzoboden, den weiß gestrichenen Wänden, zwei vertikalen Grünwänden und abgestuften, als Sitzfläche dienenden Vertiefungen wirkt diese Halle ebenso großzügig-elegant wie funktional durchdacht und lässt den Ort als für offizielle Veranstaltungen und Get-together besonders geeignet erscheinen. Ihm angegliedert sind der Hörsaal, Mitarbeiterrestaurant und das den Außenbereich miteinbeziehende Café. An das Atrium angeschlossen ist – gewissermaßen als firmengeschichtliches Identifikationsangebot – das durch verglaste Fenster einsehbare historische Büro von Theo Albrecht mit ledernem Schreibtischstuhl und schwerem Holzschreibtisch aus den Nachkriegsjahrzehnten.
Haustechnik im Keller, Grün und Photovoltaik auf dem Dach
Und dann ist da noch das A als Zeichen und Firmenlogo, das nicht nur in der Grundrissform des Atriums erscheint, sondern in zahlreichen Details aufgenommen wird – von den Grundrissen des Empfangs- und Sportpavillons wie des separaten Kita-Gebäudes bis hin zu Elementen des Interieurs wie den Oberlichtern, den Fenstern oder den Lampen. Von der Plaza aus zugänglich sind die in verschiedene Richtungen weisenden Arme des Gebäudetraktes. Die Atmosphäre hier ist dank der in unterschiedlichen Grautönen gehaltenen Teppichböden, der aus ebenfalls grauem Stoff gefertigten Schreibtischwände und der Gruppen von Sitzmöbeln in den Co-Working-Bereichen großzügig und wohnlich – mit reichlich Ausblick in die Ruhrgebietslandschaft, wobei jeweils die Enden dieser drei Strahlen ruhigere Zonen aufweisen.
Die Photovoltaikanlage auf einem Teil der Dachlandschaft, die Nutzung der Geothermie über Wärmepumpen und ein Lüftungskonzept mit Wärmerückgewinnung sind Bestandteile eines nachhaltigen Energiekonzepts. Um die Dächer extensiv begrünen zu können, wurde die gesamte Haustechnik in die Untergeschosse verbannt. Das Gesamtprinzip lautet in Essen: „Offenheit statt Abschottung“.
Integration von Landschaft und Architektur
Die in Süddeutschland beheimatete Hauptverwaltung des öffentlichkeitsscheuen Unternehmens derselben Branche setzt die Idee einer Integration von Landschaft und Architektur in einem hierzulande kaum bekannten Maße um. Da dem Unternehmen an seinem bisherigen Standort der Platz ausgegangen war, zog es in den Nachbarort. Das leicht ansteigende Terrain ausnutzend, erheben sich hier nun fünf separate, auf einer Plattform miteinander verbundene, entweder u-, stern- oder kreisförmige Gebäude, jeweils auf einer Seite terrassiert, bis auf sechs Etagen.
Sowohl die Dachflächen als auch die Terrassen der Gebäude sind ebenso wie die Plattform selbst begrünt, sodass die Idee einer landschaftlichen Einbettung des Gebäudeensembles kein bloßer Slogan bleibt, sondern tatsächlich auf allen Ebenen und an allen Orten des Komplexes spürbar ist. Dem Ziel der Einheit von Natur und Architektur dienen letztlich auch die abgerundeten Fassadenelemente aus erdfarbener Terrakotta-Keramik.
Untergeschoss wird zum Boulevard
Zentrum ist der vom ebenerdigen Haupteingang über eine hölzerne Freitreppe zugängliche untere „Boulevard“, der als Treffpunkt und Verteilerzentrum dient. Dieses faktische Untergeschoss bietet abwechslungsreiche Raumsituationen, die sich über mehrere Öffnungen und Verbindungen nach draußen auf die begrünten Landschaftsplateaus öffnen. Die Bürobereiche in den Gebäuden wurden als flexibel bespielbare Flächen geplant und bieten ein breites Angebot an gängigen Bürotypologien von Einzel- über Gruppen- und Kombibüros bis zum Großraum.
Greenbox Landschaftsarchitekten, die bei dem Projekt als Subunternehmer fungierten, waren für die landschaftliche Gestaltung der Freiflächen verantwortlich. Die obersten Dachflächen wurden extensiv mit verschiedenen Sedum-Arten begrünt, teilweise in Kombination mit einer PV-Anlage. Die Dachterrassen, die unmittelbar an die jeweiligen Geschosse andocken und von den Arbeitsbereichen einsehbar sind, erhielten intensive Begrünungen aus Gräsern, die als Thema die umgebende Wiesen- und Felder-Landschaft aufnehmen. Die geschwungenen Gestaltungsformen ebenso wie die unterschiedlichen Höhen der Gebäudeebenen spiegeln die wellige Topografie der Umgebung wider.
Recyclingfähige Materialien und Lehm
Nachhaltigkeit wird neben der intensiven Bepflanzung durch die teilweise Verwendung recyclingfähiger Materialien sichergestellt: Die Terracotta-Platten der Fassade sind ausschließlich mechanisch und klebefrei montiert, sodass sie einschließlich ihrer Unterkonstruktion sortenrein trennbar bleiben. Eine atmungsaktive Lehmwand im Boulevard wirkt feuchtigkeitsregulierend auf das Raumklima. Für den Wärme- und Kühlungsbedarf kommen ein Blockheizkraftwerk und eine Absorptionskältemaschine zum Einsatz. Nachhaltigkeit einerseits, die Frage der Aufenthaltsqualitäten andererseits – die Aspekte, denen in beiden Firmenzentralen vor allem die Aufmerksamkeit galt, sind hier aufs Engste miteinander verknüpft.
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