Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Raum für Innovation“ im Deutschen Architektenblatt 11.2022 erschienen.
Lange Zeit schienen Ressourcen wie Energie und Material unbegrenzt verfügbar zu sein. Dieser materielle Überfluss hat spätestens mit der russischen Invasion in die Ukraine ein Ende gefunden. Die Folgen sind noch nicht absehbar. Sicher ist, dass wir uns gegen weitere Krisen wappnen müssen.
Materieller Überfluss erzeugt Komfortstandards
Der materielle Überfluss hat unter anderem dazu geführt, dass auch im Bauwesen die Komfortstandards immer weiter gestiegen sind, schlichtweg weil die Gesellschaft eines wohlhabenden Landes wie Deutschland es sich leisten konnte. Standards konnten sich aber auch etablieren, weil Produzenten von Baukomponenten für weitere Anforderungen gesorgt haben, um Absatzmärkte für ihre Produkte zu schaffen. Hier muss ein radikaler Wandel stattfinden.
Der im Sinne der Ressourcenschonung dringend notwendige Erhalt von Bestandsgebäuden ist kaum umsetzbar, da an Bestandsgebäude Anforderungen wie an Neubauten gestellt werden, die dann dazu führen, dass gebrauchstaugliche Gebäude abgerissen werden und darüber hinaus die entstehenden Neubauten aufgrund dieser Anforderungen zum Beispiel aus dem Bereich Schallschutz einen deutlich höheren Ressourcenaufwand verursachen.
Innovationen hin zu weniger Komplexität
Planende haben im Moment kaum Spielraum, innovativ zu bauen, obwohl dies dringend notwendig ist. Architektinnen, Stadtplaner, Innenarchitektinnen und Landschaftsarchitekten brauchen „mehr Luft zum Atmen“, Freiräume für ihre Arbeit, die ihnen durch überkommene Anforderungen an Gebäude aus einer Zeit des materiellen Überflusses genommen wurden.
Der gesamte Bausektor muss demnach einen umfassenden Innovationsschub erfahren, und diese Innovation darf nicht mehr in einer Erhöhung der Komplexität münden, sondern in einer Reduktion auf das Wesentliche: den Erhalt der Lebensgrundlagen und der sozialen Gerechtigkeit. Nur so können langfristig auch die wirtschaftlichen Fundamente unserer Gesellschaft gesichert werden.
Vorschlag der Architektenkammern: Gebäudetyp E
Um hier ein Fenster für Innovationen zu öffnen, schlagen die Architektenkammern den Gebäudetyp E vor. Neben dem bestehenden System der Gebäudeklassen in der Bauordnung können Bauvorhaben dem Gebäudetyp „E“, im Sinne von „Einfach bauen“ oder „Experimentelles Bauen“, zugeordnet werden; kombiniert mit den bestehenden Klassen für den Brandschutz zum Beispiel zur Gebäudeklasse „E 3“.
Für diese Projekte gelten die Normen und Richtlinien, auf die Artikel 85a Musterbauordnung (MBO) verweist, nicht zwingend, wenn und soweit dies mit dem fachkundigen Bauherrn ausdrücklich so vereinbart wird. Die Schutzziele der Bauordnungen, also Standsicherheit, Brandschutz, gesunde Lebensverhältnisse und Umweltschutz, sind hingegen immer und uneingeschränkt zu erreichen und umzusetzen.
Gebäudetyp E mit reduziertem Regelwerk
Als Grund für die Einordnung in „E“ kann die Anwendung einer innovativen Konstruktion ebenso gelten wie der Versuch, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Am Beginn eines „E“-Projekts steht eine sorgfältige, gemeinsame Festlegung zwischen Planern und fachkundigen Bauherren zu den Zielen und Qualitäten, die frei vereinbart werden können, sich dabei aber natürlich auch im vom Bauherrn gewünschten Umfang an den gängigen Standards orientieren können. Diese Aufstellung macht die Eigenschaften des Gebäudes dauerhaft transparent – auch gegenüber Verbrauchern, die beispielsweise als Mieter ein solches Gebäude nutzen.
Dann ist es möglich, mit einem reduzierten Regelwerk zu arbeiten, das es Planerinnen und Planern ermöglicht, Standards, Materialien und Ausführungsdetails aneinander anzupassen, sodass sinnvolle und nachhaltige Gebäude zu bezahlbaren Kosten entstehen. Bei Projekten des Gebäudetyps E können Innovationen erprobt werden, die dann auch auf das allgemeine Baugeschehen übertragen werden können und so den nötigen Richtungswechsel im Bausektor befördern.
Andrea Gebhard, BAK-Präsidentin
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