Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Grenzüberschreitende Wärmedämmung“ im Deutschen Architektenblatt 01-02.2023 erschienen.
Von Volker Steves
Jeder in der Sanierung tätige Architekt dürfte die folgende Situation kennen: Auf Wunsch des Bauherrn soll an dem Bestandsgebäude von außen eine Wärmedämmung angebracht werden. Das Haus grenzt aber unmittelbar an das Grundstück des Nachbarn, sodass die um die Dämmung erweiterte Giebelwand in das Grundstück des Nachbarn hineinragen würde. Da das Verhältnis des Bauherrn zum Nachbarn angespannt ist, steht zu befürchten, dass der Nachbar sich mit diesem Vorgehen nicht einverstanden erklären wird. Aber ist dessen Zustimmung überhaupt erforderlich? Besteht in einer solchen Situation nicht etwa eine Duldungspflicht des Nachbarn?
Nachträgliche Wärmedämmung über die Grundstücksgrenze
Die meisten Bundesländer haben in ihren Landesgesetzen eine entsprechende Pflicht des Nachbarn geregelt: Dient die Maßnahme der nachträglichen Wärmedämmung, dann hat der Nachbar den Überbau unter den im jeweiligen Landesrecht genannten Voraussetzungen zu dulden, zum Beispiel nach § 23 a Nachbarrechtsgesetz Nordrhein-Westfalen (NachbG NRW); § 16 a Berliner Nachbarrechtsgesetz (NachbG Bln); § 14 a Thüringer Nachbarrechtsgesetz (ThürNRG); Art. 46 a Gesetz zur Ausführung des Bürgerlichen Gesetzbuches Bayern (BayAGBGB) oder § 7 c Nachbarrechtsgesetz Baden-Württemberg (NRG BW).
Landesrecht versus Bundesrecht
Endgültig sicher konnten sich Architekt und Bauherr aber auch bei Vorliegen der in der Landesnorm genannten Voraussetzungen bislang nicht sein. Denn es konnte durchaus vorkommen, dass es dem Nachbarn gelang, sich beim zuständigen Gericht mit dem Argument durchzusetzen, dass die landesrechtliche Regelung mit dem Bundesrecht unvereinbar und daher gemäß Art. 31 Grundgesetz (GG) nichtig sei (LG Köln, Urteil vom 14. Mai 2022, Az.: 29 S 223/19). In einem solchen Fall wäre der Überbau in zivilrechtlicher Hinsicht vorrangig an der bundesgesetzlichen Regelung des § 912 der Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) zu messen. Danach hat der Nachbar nur einen versehentlichen Überbau anlässlich der Errichtung eines Gebäudes (also eines Neubaus) zu dulden. Ein wissentlicher Überbau zwecks nachträglicher Wärmedämmung (eines Bestandsgebäudes) würde dagegen keine Duldungspflicht auslösen.
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat nunmehr in zwei jüngeren Entscheidungen den in Literatur und Rechtsprechung intensiv geführten Meinungsstreit zur Wirksamkeit der landesgesetzlichen Duldungspflicht zugunsten des „Überbauers“ entschieden. Dem Argument, dass es den Ländern an einer Gesetzgebungskompetenz für den Erlass der landesgesetzlichen Duldungspflicht fehle und die Landesregelung daher gemäß Art. 31 GG („Bundesrecht bricht Landesrecht“) nichtig sei, erteilte der BGH eine Absage.
Zwei verschiedene Regelungszwecke
In seiner Entscheidung vom 12. November 2021 (Az.: V ZR 115/20) führt der BGH aus, dass die landesrechtliche Vorschrift – konkret ging es um § 23 a NachbG NRW – an eine andere Bausituation als § 912 BGB anknüpfe und sich die Vorschriften im Hinblick auf den Regelungszweck unterschieden. Während § 912 BGB der Erhaltung wirtschaftlicher Werte diene, bestehe der Zweck von § 23 a NachbG NRW darin, im Interesse des Eigentümers und der Allgemeinheit durch eine nachträgliche Dämmung neue öffentlich-rechtliche Zielvorgaben oder infolge der bautechnischen Fortentwicklung veränderte Baustandards zu erfüllen. Daher werde die Grundkonzeption der bundesgesetzlichen Regelung (§ 912 BGB) durch die landesgesetzliche Regelung nicht tangiert, und der Landesgesetzgeber habe eine entsprechende Regelung erlassen dürfen. Er habe über die notwendige formelle Gesetzgebungskompetenz verfügt. § 23 a NachbG NRW sei daher verfassungskonform und nicht gemäß Art. 31 GG nichtig.
Die zur formellen Verfassungsgemäßheit des § 23 a NachbG NRW angestellten Überlegungen des Bundesgerichtshofes lassen sich unproblematisch auf die korrelierenden Landesvorschriften in den anderen Bundesländern übertragen. So überrascht auch nicht, dass der BGH in seiner Entscheidung vom 1. Juli 2022 (Az.: V ZR 23/21) im Hinblick auf die formelle Verfassungsgemäßheit von § 16 a NachbG Bln umfänglich auf seine Ausführungen in der Entscheidung vom 12. November 2021 verweist und in nur zwei Sätzen feststellt, dass gegen die formelle Verfassungsgemäßheit von § 16 a NachbG Bln keine Bedenken bestehen.
In den weiteren Ausführungen beschäftigt sich der Bundesgerichtshof ausschließlich mit den Inhalten der Berliner Regelung. Dies hat seinen Grund darin, dass in Berlin der Duldungsanspruch, anders als in anderen Bundesländern, nicht von weiteren Voraussetzungen abhängig gemacht wird. So sehen zum Beispiel die Regelungen in nahezu allen anderen Ländern vor, dass der Überbau die Benutzung oder (zulässige) beabsichtigte Benutzung des Grundstücks des Nachbarn nicht oder nur geringfügig beeinträchtigen darf (so etwa § 23 a Abs. 1 Satz 1 NachbG NRW oder Art. 46 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BayAGBGB). In der Gesamtschau kommt das Gericht zu der Einschätzung, dass § 16 a NachbG Bln trotz des Fehlens weiterer Voraussetzungen „noch als verhältnismäßig anzusehen“ ist.
Bei Neubau keine Wärmedämmung über die Grundstücksgrenze
Ob der Nachbar den Überbau in zivilrechtlicher Hinsicht zu dulden hat, hängt somit von der konkreten Bausituation ab: Der Grundkonzeption des § 912 BGB entsprechend sind Neubauten sind stets so zu planen, dass sich die Wärmedämmung in den Grenzen des eigenen Grundstückes befindet. Die Duldung bei Neubauten hat nur bei einem versehentlichen Überbau zu erfolgen.
Dient die Baumaßnahme dagegen der Wärmedämmung eines Bestandsgebäudes, dann ist ein Überbau unter den in den Landesvorschriften genannten Vorschriften rechtens, auch wenn er wissentlich geschieht.
Selbstverständlich müssen die Planer immer das öffentliche Baurecht im Auge behalten. Die landesgesetzliche Regelung zur grenzüberschreitenden Wärmedämmung von Bestandsgebäuden betrifft nur die privatrechtliche Beziehung zwischen dem Bauherrn und dessen Nachbarn. Öffentlich-rechtliche Regelungen, etwa zu den Abstandsflächen, sind weiterhin losgelöst von dem privatrechtlichen Interessenausgleich zu beachten.
Dr. Volker Steves ist Jurist bei der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen
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