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Feldforschung im Hochhaus: Grenzen des Miteinanders

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft steht und fällt mit dem Zwischenmenschlichen. Wo ließe sich das besser erforschen als da, wo besonders viele Menschen zusammenleben, wie etwa im Hochhaus? Das dachte sich der Forscher Sebastian Bührig, stellte sich eine Woche lang in den Fahrstuhl und schrieb das Buch „Grenzen des Miteinanders“

Von: Lorenz Hahnheiser
Lorenz Hahnheiser schreibt über die Architekturlehre an den Unis, architekturpolitische...

01.11.20235 Min. Kommentar schreiben
Collage von Hochhäusern in Berlin

Grenzen des Miteinanders: Auch ohne Gemeinschaftsflächen kann in Hochhäusern Gemeinschaft enstehen, es kommt dafür auf die persönliche Nähe zwischen den Bewohner:innen an.
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In seinem Buch „Grenzen des Miteinanders“ beschreibt Sebastian Bührig seine Forschung zu nachbarschaftlichen Verhältnissen. Die sehr persönliche Forschungsarbeit gewährt den Leser:innen spannende Einblicke in das nachbarschaftliche Über-, Unter-, Neben-, Mit- und Gegeneinander zweier Wohnhochhäuser in Berlin. Hier wendet er seine neuartige Forschungsmethode, die einmischende Beobachtung an.

Wahlnachbarschaften

Es gilt, Häuser und Städte zu gestalten, in denen die Menschen sich in Frieden fremd sein können – ohne es zu müssen, so der Forscher. Der Zusammenhalt und die Brüche unserer Gesellschaft spiegeln sich im Nachbarschaftlichen wider. In Großstädten leben Menschen in physischer Nähe häufig bei gleichzeitiger sozialer Distanz. Nicht jeden Menschen muss man unbedingt kennenlernen, um ein angenehmes Leben zu führen. Hochhäuser haben den Vorzug, dass man beeinflussen kann, ob man sich ausweichen oder kennenlernen möchte. Darum können hier Wahlnachbarschaften entstehen, wie der Autor sie nennt. Das macht großstädtische Strukturen weniger anonym als man meinen könnte.

Sebastian Bührig ist Stadtforscher. Durch seine Arbeit möchte er Menschen füreinander interessieren. „Grenzen des Miteinanders. Die Forschungsmethode der einmischenden Beobachtung“ ist seine Dissertation an den Lehrstühlen für Urban Design und Stadt- und Regionalsoziologie an der HafenCity Universität Hamburg.

Von der U-Bahn in die Hochhäuser

Den Anfang des Buches macht eine Begegnung in der Berliner U-Bahn. Sie führt zu einer Auseinandersetzung über das Zwischenmenschliche und den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hiermit sieht der Forscher unweigerlich die Frage verbunden, was uns Menschen trennt und was uns verbindet.

Sebastian Bührig als Concierge in einem Aufzug

Sebastian Bührig als Concierge im Aufzug eines Berliner Hochhauses. Foto: Axel Mosch
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Den Grenzen des Miteinanders geht er in zwei Berliner Hochhäusern auf den Grund, weil dort besonders viele Menschen auf engem Raum leben. Es folgt die Erarbeitung der Forschungsmethode. Hierfür werden die Kernanliegen soziologischer Arbeiten der letzten 200 Jahre herausgearbeitet. Die übergreifende Erkenntnis: Der Forscher sollte sich einmischen – und das tut er dann auch.

In Concierge-Uniform begibt sich Sebastian Bührig für eine Woche in den Fahrstuhl eines Hochhauses in Westberlin und er schließt sich für eine Woche den Hausmeistern in der Loge eines Ostberliner Hochhauses an, um die Grenzen des Miteinanders auszuloten. Ergänzend kommen Akteur:innen des Wohnungsmarktes zu Wort und erweitern so die Perspektive auf das Leben in den Hochhäusern. Möglichst ungefiltert wird jede Situation wiedergegeben und dann wissenschaftlich eingeordnet.

Zwischenhalte werden in der Buchmitte bei Georg Simmel, Ernst Cassirer, Pierre Bourdieu und Hannah Ahrendt eingelegt. Im Geistergespräch philosophiert der Forscher mit ihnen darüber, was es braucht, damit gute Nachbarschaft entstehen kann.

Soziologische Grundlagen für Gestalter:innen

Wer „Grenzen des Miteinanders“ liest, beschäftigt sich mit der Realität des nachbarschaftlichen Mit- und Gegeneinanders auf engem Raum. Aus architektonischer Sicht ist dabei spannend zu beobachten, was die Menschen an ihrem Haus wertschätzen und ob die Häuser ein angenehmes soziales Gefüge entstehen lassen. Durch die Gespräche, die Sebastian Bührig im Fahrstuhl und in der Hausmeisterloge führt, werden Nähen und Distanzen unter den Bewohner:innen sichtbar.

Auch ohne Gemeinschaftsflächen ist in den hohen Häusern Gemeinschaft vorhanden. Wo es an Nähe zwischen den Bewohner:innen fehlt, scheint wiederum eine Gemeinschaftsfläche nicht die heilbringende Lösung zu sein. Entscheidend scheinen vielmehr die Gestaltung im Detail, das Betreiber:innenmodell und die Zusammensetzung der Hausgemeinschaft zu sein.

Der Autor und seine Rolle

Die einmischende Beobachtung erkennt die forschende Person als Teil der erforschten Situation an. Möglichst ungefiltert wird erzählt, was passiert. Die forschende Person spricht jedoch nicht jede Sprache und gibt durch ihr Äußeres und ihr Auftreten unterschiedlichen Menschen unterschiedlich viel Sicherheit, um sich zu öffnen: Sebastian Bührig ist weiß, männlich und war zur Zeit der Forschungsarbeit mitte Dreißig. Deutsch ist seine Muttersprache und er spricht fließend Englisch. So spielt die Person Sebastian Bührig eine zwar untergeordnete, aber doch relevante Rolle in dieser Forschungsarbeit – schließlich ist er Teil jeder von ihm erlebten Situation.

Trotz der Abhängigkeiten von der forschenden Person, ermöglicht die Methode tiefe Einblicke in die objektiven wie subjektiven Grenzen des Miteinanders der nachbarschaftlichen Verhältnisse. Diese sind sehr authentisch, greifbar und belastbar. Beispielsweise sagt eine Bewohnerin, das Leben im Hochhaus sei sehr anonym. Später widerlegt sie ihr eigenes Statement durch Besuche von Freund:innen und Bekannten auf diversen Stockwerken – eine Beobachtung, die durch das Einmischen des Forschers möglich wurde.

Die Grenzen des Miteinanders: Menschen füreinander Interessieren!

Ganz wie es sich für einen Concierge schickt, holt Bührig die Leser:innen bei den Grundlagen ab und befördert sie hoch zu weitsichtigen Erkenntnissen. Die mal lustigen, mal ernsten Situationen haben einen einfachen und immer wieder unterhaltsamen Lesefluss. Sie sind gespickt mit theoretischen Inputs und guten Zusammenfassungen. Es ist leicht sich in den Forscher hineinzuversetzen, gemeinsam mit ihm zu erleben, zu reflektieren und zu verknüpfen. So gewährt das Buch einen leichten Einstieg und tiefe Einblicke in sozialräumliche Forschung und die soziologischen und philosophischen Zusammenhänge der Grenzen des Miteinanders.

 

Sebastian Bührig
Grenzen des Miteinanders – die Forschungsmethode Einmischende Beobachtung.
transcript Verlag, 2023
351 Seiten, 39 Euro.

Das Buch steht als PDF kostenfrei zur Verfügung.

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