Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Zivilisiert“ im Deutschen Architektenblatt 07-08.2024 erschienen.
Wohnen in einer ehemaligen Kaserne dürfte für die meisten Menschen im ersten Moment wenig attraktiv klingen. Man denkt an Massenunterkünfte und die militärische Disziplin, die solchen Gebäuden eingeschrieben ist.
Kasernen werden meistens abgerissen
Zeitgemäßes Wohnen scheint nur auf der Basis von Abriss des militärischen Bestands und anschließendem Neubau möglich – wie es nach dem Abzug vieler internationaler Truppen aus Deutschland in den 1990er-Jahren auch landauf, landab praktiziert wurde. Doch manche Kasernen sind aus historischen und architektonischen Gründen denkmalgeschützt.
Da Abriss in diesen Fällen keine Option ist, blieben viele dieser Areale in den letzten 30 Jahren ungenutzt, so manche Umbaupläne scheiterten. Dass die Geschichte für den Bestand trotzdem noch gut ausgehen kann, beweisen zwei aktuelle Projekte in der Agglomeration Berlins. Sie zeigen, dass architektonisch wertvolle Bauten ehemals militärischer Nutzung durchaus denkmalgerecht zu zeitgemäßem Wohnraum umgebaut werden können – und so zugleich als wichtige historische Zeugen für die Nachwelt erhalten bleiben.
Das Olympische Dorf in Elstal
Auch, wenn der Name etwas anderes suggeriert, ist das Olympische Dorf in Elstal, das für die Sommerspiele 1936 errichtet wurde, eine ehemals militärische Einrichtung. Von Anfang an war es darauf ausgerichtet, nach den Spielen von der Wehrmacht als Kaserne übernommen zu werden.
Im Auftrag des Heeresverwaltungsamtes ordneten die Architekten Werner und Walter March 140 kleine Wohnhäuser und mehrere Gemeinschaftsbauten organisch in einer aufwendigen Parkanlage an. Heute existieren nur noch wenige der ursprünglichen Häuser, darunter in erster Linie die Gemeinschaftsbauten.
Langer Leerstand im Olympischen Dorf
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die 52 Hektar große Anlage, die 7,5 Kilometer hinter der westlichen Berliner Stadtgrenze liegt, durch die Rote Armee genutzt. Seit deren Abzug 1992 gab es verschiedene Ideen für das Gelände, das heute Teil der Gemeinde Wustermark ist. Alle blieben erfolglos. Vor elf Jahren startete Bürgermeister Holger Schreiber einen neuen Anlauf, die Anlage zu entwickeln.
Speisehaus der Nationen als Mittelpunkt
Schnell kristallisierte sich heraus, dass das Areal zu einem Wohnquartier werden soll – und dass das „Speisehaus der Nationen“ Ausgangspunkt der Planungen sein würde. Das Speisehaus ist sozusagen der Nukleus des Olympischen Dorfs. Es wurde in leicht erhöhter Lage oberhalb der sogenannten Dorfaue errichtet und war für einen Großteil der ursprünglichen Häuser städtebaulicher Bezugspunkt. Nach den Spielen diente es als Lazarett. Die großzügigen Terrassenanlagen vor den Krankenzimmern im Ostflügel der über elliptischem Grundriss etwas eigenwillig gegliederten Anlage zeugen von der Nutzung als Krankenhaus. Im niedrigen Westflügel waren dienende Funktionen untergebracht; der Freiraum im Zentrum der Anlage diente als profaner Wirtschaftshof.
Vom Speisehaus zum Wohnhaus
2016 begannen Meier-Hartmann Architekten mit der konkreten Gebäudeplanung für den Umbau des Speisehauses. Das Berliner Büro war bereits seit 2013 an den ersten Planungen beteiligt und erarbeitete die Machbarkeitsstudie für das Gesamtgelände. Eigentümerin des Speisehauses und einiger Teilbereiche des Geländes ist der auf Denkmale spezialisierte Immobilienentwickler terraplan aus Nürnberg unter Geschäftsführer Erik Roßnagel. Sie ließ in dem denkmalgeschützten Haus auf 9.720 Quadratmetern Gesamtwohnfläche 115 Eigentumswohnungen realisieren – von 2-Zimmer-Apartments bis zu 4-Zimmer-Maisonettes.
Statik als Herausforderung
Das Speisehaus ist ein relativ filigraner Stahlskelettbau, dessen weite Fensterflächen und Terrassen deutlich den Einfluss des Neuen Bauens erkennen lassen. Statik und vor allem Fassaden des großen Ostflügels stellten sich schnell als die beiden größten Herausforderungen heraus. Um die heutigen statischen Anforderungen zu erfüllen, musste das Team von Meier-Hartmann Architekten ein „Stahlgrid“ aus Unterzügen und Stützen einbauen. Abgesehen von einigen Stützen im Bereich der Terrassen sind diese Ergänzungen nicht sichtbar, da sie komplett in die Decken und Wände integriert werden konnten.
Erneuerung von Fenstern und Innenwänden
Die stark verglasten Fassaden des Ostflügels wiederum hatten aufgrund der bauzeitlich dünnen Stahlüberdeckung sehr gelitten. Viel Putz musste abgeschlagen, der Stahl saniert werden. Anschließend brachte man scharrierten Dämmputz auf. Die historischen Innenwände wiederum waren kontaminiert und konnten nicht erhalten werden. Auch die Fenster mussten erneuert werden. Um auf außen liegenden Sonnenschutz verzichten zu können, kam Wärmeschutzglas zum Einsatz. Beim kleineren Westflügel wurde stärker überformt. Aus funktionalen und wirtschaftlichen Gründen erweiterte das Architektenteam das Haus hofseitig, sodass eine zusätzliche Raumschicht entstand. Der ehemals an der Hoffassade verlaufende Flur im ersten Obergeschoss liegt nun innerhalb des Baukörpers.
Ausstellung zum Olympischen Dorf
Hier richteten das Grafikatelier Engelke & Neubauer und Eugen Gehring Innenarchitektur eine umfangreiche Ausstellung zur Geschichte des Olympischen Dorfs ein, die nicht nur im Rahmen von Führungen besichtigt werden kann, sondern auch online verfügbar ist. Perspektivisch soll das Areal des Olympischen Dorfs durch mehrere Investoren zu einem Wohnquartier für circa 3.000 Menschen entwickelt werden. Der überwiegende Teil der Wohnungen wird in Neubauten realisiert.
Die Infanterie-Schießschule in Wünsdorf
Während im Olympischen Dorf weitgehend auf Gewerbe verzichtet wird, soll die ehemalige Infanterieschießschule im südlich von Berlin gelegenen Wünsdorf zu einem gemischten Quartier entwickelt werden. Wünsdorf, heute ein Ortsteil der Stadt Zossen, ist vielen kein Begriff – tatsächlich aber einer der wichtigsten Orte der deutschen Militärgeschichte. Seit dem Kaiserreich gab es hier militärische Einrichtungen. Die deutschen Armeen beider Weltkriege wurden von Wünsdorf geführt. Nach 1945 war es Sitz des Oberkommandos der sowjetischen Truppen in der DDR. 1994 zog die Rote Armee schließlich ab und hinterließ eine riesige, über Jahrzehnte gewachsene Garnisonstadt.
Kaserne mit verschiedenen Bautypen
Die Infanterieschießschule ist die älteste militärische Einrichtung in Wünsdorf. Die meisten und gestalterisch besten Bauten der Anlage entstanden kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs in Form einer großzügigen, axialsymmetrisch klar geordneten Anlage durch den Berliner Architekten Ernst Richter. In den 1930er-Jahren wurden weitere Gebäude errichtet. Heute gibt es auf dem 11,4 Hektar großen, mit reichlich Bäumen bestandenen Areal 18 Bauten – von zwei Torhäuschen über mehrere Mannschaftsgebäude und Werkstätten bis hin zu einem kleinen Theater. Zwei repräsentative, viergeschossige Mannschaftsgebäude bilden den baulichen Kern der Anlage und sind Ausgangspunkt der laufenden, denkmalgerechten Revitalisierung durch das Berliner Büro cubus plan.
Gemischtes Wohnquartier
Eigentümerin des 40 Kilometer südlich des Berliner Stadtzentrums liegenden Areals ist seit 2017 die Baltic Memorial OHG der Brüder Horant und Rolf Elgeti. Sie ist auf Denkmalsanierungen spezialisiert und möchte in den nächsten zehn Jahren das gesamte Areal unter dem Namen INFA-Quartier entwickeln. Geplant sind gut 200 Mietwohnungen, Gewerbeflächen sowie kulturelle und soziale Nutzungen.
Wohnungen im Kasernen-Grundriss
Ende l2023 schloss cubus plan mit dem ehemaligen Mannschaftsgebäude namens INFA1 den ersten Umbau ab. Das Team aus Architektinnen und Architekten transformierte die wuchtige, spätkaiserzeitliche Soldatenunterkunft mit hohem Mansarddach in 36 helle 2- bis 4-Zimmer-Wohnungen. Eine besondere Herausforderung war der Zuschnitt der Wohnungen in dem ehemals großzügig einhüftig organisierten Bau mit seinen streng gereihten Räumen, betont Architektin Itziar León. Die langen Flure mit ihren Schwibbögen integrierte cubus plan beim Umbau in die Wohnungen, wodurch insbesondere im Haupttrakt zweiseitig belichtete Wohnungen entstanden.
Direkte Gartenzugänge im Erdgeschoss
Die Erschließung erfolgt über vier Bestandstreppenhäuser. An der rückwärtigen Ostfassade wurde das Haus zum Außenraum geöffnet. Die Erdgeschosswohnungen haben direkte Gartenzugänge; im ersten und zweiten Obergeschoss gibt es abgehängte Balkone; die Wohnungen im Dachgeschoss haben Loggias, die in das Mansarddach eingeschnitten wurden. In den Treppenhäusern wurden die originalen Bodenfliesen erhalten und die Farbigkeit gemäß restauratorischer Untersuchung wiederhergestellt.
Gewerbeflächen noch zu vergeben
Anfang 2024 zogen die ersten Menschen in das Haus ein. Das ehemalige Mannschaftsgebäude INFA3 sowie drei weitere kleinere Bauten sind im Bau und sollen im Laufe des Jahres fertig werden. Bis Ende des Jahres will cubus plan außerdem die Bauanträge für fünf weitere Häuser einreichen. Für die Gewerbeflächen werden noch Mietinteressenten gesucht, anschließend sollen die Objekte entwickelt werden. Von Gesundheitsvorsorge über Ateliers bis Werkstätten sei vieles möglich, erklärt Itziar León.
Gemeinschafstflächen an symbolischem Ort
Auch ein flexibel nutz- und mietbarer Gemeinschaftsraum mit circa 200 Quadratmeter Fläche ist geplant. Er soll im charmant asymmetrischen und flachen Wirtschaftsgebäude entstehen, das in der Hauptachse der Anlage steht. Die Verortung dieses sozialen Treffpunkts im pittoresken und zurückhaltenden Haus an überraschend zentraler Stelle der ehemaligen Kaserne ist geradezu ein Sinnbild für die neue Gemeinschaftlichkeit, die in dem kleinen Quartier wachsen soll – und die mit der jahrzehntelangen militärischen Gruppenformierung, die an diesem Ort stattgefunden hat, programmatisch bricht.
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