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Zurück Nachwuchs-Kolumne #218

Grün und geschäftig: Straßenräume für eine neue Öffentlichkeit

Wie lebenswerte Städte künftig aussehen können, zeigen bereits einige vorbildliche Projekte. Das Buch „Die neue Öffentlichkeit – Europäische Straßenräume des 21. Jahrhunderts“ gibt einen guten Überblick über grüne Klimastraßen, zeitgemäße Boulevards oder Straßen als Bewegungsorte.

Von: Luisa Richter
Luisa Richter schreibt über Landschaftsarchitektur an den Unis, im Beruf...

25.09.20246 Min. Kommentar schreiben

Die „autogerechte Stadt“, Straßen als „Verkehrsadern für den Kraftverkehr“: Diese Leitlinien haben über Jahrzehnte die Planung unserer urbanen Freiräume geprägt – leider! Wir wissen es heute zwar besser. Aber von einer Wende zum Besseren ist trotz vieler Debatten immer noch viel zu wenig zu sehen. Dabei gibt es gute Beispiele. Kürzlich hat ein Kollege mir das Buch „Die neue Öffentlichkeit – Europäische Straßenräume des 21. Jahrhunderts“ empfohlen – und ich bin wirklich begeistert!

Freiraum versus Erschließung

Auf rund 340 Seiten stellen Pola Koch, Steffen de Ruder und Stefan Signer in Deutsch und Englisch sieben verschiedene Straßentypen vor. Sie zeigen, wie in Europa Straßenräume neu gedacht werden. Nach einer kurzen Einführung zur Relevanz der Straßen als Freiräume für unsere Städte und die gleichzeitige Notwendigkeit der Erschließung, erläutern sie kurz verschiedene Straßenraumtypologien.

Drohnenaufnahme des Sankt Kjelds Platzes

Teilansicht des Sankt-Kjelds-Platzes in Kopenhagen
SLA Landscape Architects

Klimastraßen: Der schönste Kreisverkehr der Welt

Zwei deutsche Projekte haben sich auch in das Buch geschlichen. Grundsätzlich fällt aber auf: Wir sollten viel mehr über den Tellerrand schauen und von unseren Nachbarländern lernen. Gerade in der Kategorie „Klimastraßen“ ist mein Lieblingsland Dänemark direkt mit zwei Projekten vertreten. Der wohl schönste Kreisverkehr der Welt macht den Anfang: der Sankt-Kjelds-Platz und Bryggervangen in Kopenhagen.

Voriges Jahr habe ich mir das Projekt in Kopenhagen selbst angeschaut und war direkt davon überzeugt. So simple Straßenräume wie Kreisverkehre werden zu Frei- und Lebensräumen, zu Retentionsorten für Flora und Fauna. Neben den Klimastraßen in Kopenhagen (Bryggervangen und Scandiagade) stellen die Autor:innen französische Straßenräume und einen britische vor, die je zur Klimaanpassung ihrer Stadt beitragen.

Gute Einblicke mit Fotos und Plänen

Das Buch stellt jedes Projekt mit zahlreichen Fotografien und mit seinen Eckdaten vor. Ein Schwarzplan verortet das Projekt innerhalb der Stadt und gibt ein Gefühl für die Umgebung. Hinzu kommt ein Planausschnitt im Maßstab 1:1.000 in minimalistischem Design. So zeigt sich die Gestaltungsidee hinter jedem Projekt. Drei verschiedene Schnitte ergänzen das Kapitel zu jedem Projekt. Mit je einem Schnitt (1:250) und Plan sowie einer Erläuterung zur Ausstattung endet jedes Projekt mit vier Piktos: wie war es vorher, nachher, die Baumstellung im Entwurf und die unversiegelte Fläche.

Die hochwertigen Fotografien der Straßenräume und sorgsam aufgearbeiteten Grafiken sorgen dafür, dass man voller Freude jedes Projekt erkundet und kennenlernen möchte.

Repräsentative Straßen: Boulevards als Aufenthaltsorte

Hinzu kommen „repräsentative Straßen“ in Slowenien, Belgien, Großbritannien und Albanien. Hier zeigen die drei, wie man große Boulevards und Prachtstraßen zukunftsfähig und zeitgemäß zu Aufenthaltsorten machen kann. Durch die Umnutzung von Autostraßen zu Fußgänger- und Radwegverbindungen entstehen in all diesen Projekte kleine Rückzugsorte, die teilweise durch Cafés und Restaurants entlang der Straße genutzt werden. Man sieht attraktive Sitzmöglichkeiten für die Gastronomie, aber auch konsumfreie Orte.

Straßenraum in Rennes

Ein „Aktiver Straßenraum“: Mail François Mitterrand in Rennes, 2015; Entwurf: Mutabilis − paysage & urbanisme
K. Samborska

Aktiver Straßenraum: Spiel, Sport und Bewegung

Eine andere Umnutzungsform für Straßenräume ist die Entwicklung hin zu aktiven Orten. Im dritten Kapitel, das diese Transformation behandelt, stellt das Buch „aktive Straßenräume“ in Dänemark, Frankreich und Spanien vor. Besonders in Wohnstraßen ohne Geschäfte bietet es sich an, den Raum zwischen den Häusern auch zur Bewegungsförderung zu nutzen. Dies hilft der Gesundheit aller Menschen, ganz egal welches Alter sie haben. Denn gerade in Großstädten sind Spielplätze und Sporteinrichtungen überlaufen. Sie liegen zudem selten im direkten Wohnumfeld. Solch unterschwellige Angebot kommen da genau richtig.

Nachbarschaftsstraßen und recycelte Infrastruktur

Neben sportlichen Angeboten fehlt es im Wohnumfeld oft an Begegnungsorten. Das Kapitel „Nachbarschaftsstraßen“ stellt vier Projekte in Spanien, den Niederlanden, Deutschland und Frankreich vor, in denen Räume des Austauschs und der Beteiligung geschaffen wurden. Von verbreiterten Fußgängerbereichen bis zu kompletten Fußgängerzonen gibts es hier unterschiedliche Ansätze Straßenräume zu schaffen. Aber auch eine komplette Umnutzung von Kanälen oder Gleisanlagen zu Freiräumen für Menschen schafft attraktive Orte in der Stadt. Beispielprojekte aus Belgien, Finnland, Deutschland und der Schweiz werden hier im Kapitel „Recycelte Infrastruktur“ vorgestellt.

Straßenraum in Brighton

Ein „Geschäftiger Straßenraum“: New Road in Brighton, 2007; Entwurf: Gehl architects, Landscape Projects, Martin Stockley Associates
Shaw & Shaw

Geschäftige Straßenräume: mehr als Shopping

Die wohl am häufigsten vorkommende autofreie Straßenform ist die der „geschäftigen Straßenräume“. In fast jeder Stadt gibt es eine Fußgängerzone, die gesäumt ist von zahlreichen Geschäften. Dies ist auf den ersten Blick also nichts Neues. Allerdings wird durch den Onlinehandel immer seltener in diesen Straßen gekauft. So versuchen Städte wie Wien und Innsbruck in Österreich, Brighton in Großbritannien und Sopron in Ungarn ihre Einkaufsstraßen auf neuen Wegen zu attraktiven Straßenräumen umzuformen. Diese Ansätze werden im sechsten Kapitel vorgestellt.

Testräume: Einladungen und temporäre Eingriffe

Das Buch schließt mit dem Kapitel der „Testräume“, denn wir erkunden ja immer noch, was nach der autogerechten Stadt kommt. Um die Bedürfnisse der Menschen herauszufinden und um Akzeptanz für eine Umgestaltung zu gewinnen, testen mache Städte erst einmal aus, welche Straßenräume sie brauchen. Vier Projekte mit temporären Eingriffen und Beteiligung der Bevölkerung aus Spanien, Schweden und Großbritannien stellt das Buch vor. Superblocks in Barcelona, temporäre Parks und Treffpunkte zeigen, wie mit wenig Aufwand eine andere Realität auf unseren Straßen gelebt werden kann.

Das wirklich dicke Buch schafft beim Lesen eine angenehme Leichtigkeit durch hochwertige Fotografien und eingängige Grafiken. Es macht Hoffnung, dass wir auch in Deutschland eines Tages – der hoffentlich bald kommt! – in dieser neuen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts mit belebten Straßenräumen ankommen werden.

 

Pola Koch, Steffen de Rudder und Stefan Signer:
Die neue Öffentlichkeit – Europäische Straßenräume des 21. Jahrhunderts.
M Books Verlag, 2024
Deutsch/English
344 Seiten, 68 Euro


Die Nachwuchs-Kolumnen des DAB schreibt ein junges Team im wöchentlichen Wechsel. Unsere Autor:innen sind Johanna Lentzkow, Fabian P. Dahinten, Luisa Richter und Lorenz Hahnheiser.

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