Dieser Beitrag über die Architekturbiennale ist unter dem Titel „Zukunftslabor im Hier und Jetzt“ im Deutschen Architektenblatt 07.2023 erschienen.
Von Christina Gräwe
„Laboratory of the Future“ ist der programmatische Titel, den die Gesamtkuratorin Lesley Lokko dieser 18. Architekturbiennale in Venedig (noch bis 26. November) gegeben hat. Damit bringt sie die großen Debatten um Dekolonisierung und Dekarbonisierung (ohneeinander nicht denkbar) vorwärts. Und viele sind ihr gefolgt, mal nachdenklich, mal lustvoll, überwiegend interdisziplinär und mit angenehm wenig Starkult.
Deutschland: Materiallager fürs Weiterbauen
Beim Deutschen Beitrag „Open for Maintenance. Wegen Umbau geöffnet“ (ARCH+, Summacumfemmer, Büro Juliane Greb) beginnt bereits vor dem Pavillon der Re-use-Gedanke, wo sich eine Rampe (so selbstverständlich schön geht Barrierefreiheit!) aus Restmaterial der letzten Kunstbiennale ins Gebäudeinnere dreht. Dort geht es mit einem gut sortierten und katalogisierten Materiallager weiter, alles ebenfalls Reste von 2022. Nicht als Schaulager gedacht, sondern als Pool für Baumaßnahmen, die in der angegliederten Werkstatt vorbereitet und an zahlreichen Orten in Venedig zusammen mit einer Vielzahl von Mitwirkenden umgesetzt werden.
Türkei: Leerstand beleben
SO? Architecture and Ideas aus Istanbul nehmen sich mit demselben Gedanken ganze Häuser vor: Mit einem Open Call fanden sie leer stehende Gebäude, stellen sie im türkischen Pavillon vor und machen konkrete Vorschläge, wie sie umgenutzt werden könnten. Das spielt sich auf langen Tischen ab, die von geschwungenen Stoffbahnen überdacht sind, auf die die Gebäudepatienten projiziert werden. Verschärft haben die Brisanz des Themas die verheerenden Erdbeben im Februar: „Ghost Stories. The Carrier Bag Theory for Architecture“ ist ein vor dem politischen Hintergrund in der Türkei mutiges Statement.
Belgien: Bauen mit Pilzen
Belgien hat mit „In Vivo“ (Bento Architecture, Vinciane Despret) ein Reallabor eingerichtet, in dem erstaunliche Einsatzmöglichkeiten von Pilzkulturen gezeigt werden. Im Zentrum ist ein begehbarer Raum im Raum aus Pilzbausteinen entstanden. Der Pavillon ist nicht nur olfaktorisch ungewöhnlich, er wird sich durch das Wachstum der Pilze stellenweise auch verändern.
Slowenien: Traditionelles Bauwissen
Ein Raum im Raum auch im slowenischen Pavillon: „+/-1 °C. In Search of Well-Tempered Architecture“ (Jure Grohar, Eva Gusel, Maša Mertelj, Anja Vidic, Matic Vrabič) untersucht die simple Bauweise vernakulärer Häuser mit einem kleinen warmen Kern und kühleren Raumschichten außenrum. Hauptexponat ist ein nachgebildeter, mit Schafwolle-Screens umschlossener Raum, der tatsächlich sehr behaglich wirkt.
Usbekistan: Maurerhandwerk und Keramikkunst
Beinahe meditativ ist das Backsteinlabyrinth im abgedunkelten Raum des usbekischen Pavillons. „Unbuild Together. Archaism vs Modernity“ (Studio KO, Künstler, Studierende) gingen zwei Workshops voraus, einer zu traditionellem Mauerwerkshandwerk, einer mit einem Keramikkünstler, um die typischen türkisfarbenen Glasuren zu erkunden. Der Einbau stammt aus lokalem Material aus Venedig; hier und da blitzen glasierte Steine heraus. Im Innersten läuft ein Film direkt auf der Ziegelwand, wodurch er regelrecht haptische Qualitäten bekommt.
Polen: Wohnflächen erlaufen
Im polnischen Beitrag „Datament“ (Jacek Sosnowski) verschränken sich vier 1:1-Modelle zu einem Stahlrohrlabyrinth in Gelb, Rot, Blau und Grün, alle begehbar, teils auf zwei Ebenen. Die Erläuterung ist angenehm knapp und klar: Sie stehen für statistische Daten zu Wohnnutzung und Flächenverteilung in Hongkong, Mexiko, Polen und Malawi.
Mexiko: Tanzen statt Basketball
Der mexikanische Pavillon kommt als Basketballfeld daher. „Utopian Infrastructure: The Campesino Basketball Court“ (Mariana Botey, APRDELESP) thematisiert, wie sich die indigene Bevölkerung Sportplätze für andere Zwecke aneignet: für Protestkundgebungen, aber auch karnevaleske Veranstaltungen. Wenn man Glück hat, begegnet man hier mit Masken geschmückten, bestens gelaunten Tanzpaaren.
Panafrika: Nachhaltigkeit aus dem Süden
Der nigerianischstämmige Künstler und Architekt Olalekan Jeyifous bespielt eine zentrale Stelle im Hauptpavillon. „ACE/AAP“ sind die Kürzel für panafrikanische Bewegungen, die sich mit grünen Technologien und erneuerbaren Energien beschäftigen und sich dabei auf einheimisches Wissen berufen. In der knallig gelb-grünen Flughafenlounge trifft man coole Gestalten im 1960er-Jahre-Science-Fiction-Habitus. Aber: Es sind jetzt dunkelhäutige Menschen und vor allem Frauen, die hier die Zukunft neu gestalten. Völlig zu Recht hat Jeyifous den Silbernen Löwen als „promising young participant“ erhalten.
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