Von Kerstin Kuhnekath
Warum Finnland? Weil es als Vorreiter gilt für alles, was mit baukultureller Bildung zu tun hat. Schon 1998 hat sich das Land eine Architekturpolitik gegeben, um das öffentliche Bewusstsein für Architektur zu verbessern. Die Urbanistin und Architekturhistorikerin Turit Fröbe hat sich im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Universität der Künste Berlin für eine Feldstudie auf den Weg gemacht, um zu erforschen, wie erfolgreich diese Architekturpolitik tatsächlich war und was Deutschland für die eigenen anstehenden Prozesse von Finnland lernen kann. Schließlich möchte die Bundesregierung noch 2020 baukulturelle Leitlinien verabschieden.
Kann man Deutschland und Finnland vergleichen?
Ist ein Vergleich zwischen Finnland und Deutschland möglich und sinnvoll? Mit dieser Frage wurde die Autorin schon oft konfrontiert. Einsprüche weiß die Autorin zu entkräften: Als erstes benennt sie ganz klar die Unterschiede beider Länder, die „ohne Zweifel, unterschiedlicher kaum sein könnten“, um dann konkret zu zeigen, wie man Erkenntnisse aus dem kleinen, zentralistisch geführten Finnland auf das föderalistische, große Deutschland übertragen kann.
Nicht vergleichbar aber übertragbar
In fünf Kapiteln geschieht dies schrittweise. Als erstes geht es um die unterschiedlichen historischen und strukturellen Voraussetzungen beider Länder. Im zweiten Kapitel wird die Implementierung der finnischen Architekturpolitik von 1998 vorgestellt und bewertet sowie ein Blick auf die frisch überarbeitete Version namens APOLI2020 geworfen. Im dritten Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie die architektonische Gemeinbildung in der finnischen Gesellschaft verbessert werden konnte. Dann betrachtet Turit Fröbe die „Architecture Education“ im Schul- und Bildungssystem, die ungefähr dem entspricht, was wir hier „Baukulturelle Bildung“ nennen. Das letzte Kapitel beleuchtet schließlich die Vermittlungsarbeit und wie die LehrerInnen befähigt werden können, Architektur, beziehungsweise baukulturelle Bildung an Schulen zu lehren.
Man kann das Buch als Handbuch zur Politikgestaltung verstehen, oder als baukulturpolitisches Aufklärungsbuch, in das man sich vertiefen kann oder dass man querlesen kann. Ganz am Schluss des Buches liefert die Autorin konkrete Empfehlungen zur Umsetzung für die Politik. Zum Beispiel sollen die baukulturellen Leitlinien den Grundstein dafür legen, dass Architektur und Baukultur als zentrale Bestandteile von Kunst und Kultur anerkannt werden. Sie sollen Akteursnetzwerke einbeziehen und Verantwortliche benennen, die den Prozess kontinuierlich begleiten und die Weiterentwicklung unterstützen. Die Baukulturelle Bildung soll systematisch in unser Bildungssystem und vor allem in die Lehramtstudiengänge integriert werden.
Architektur als Alltag, nicht als Spezialdisziplin
Der spannende Vergleich beider Länder zeigt, dass die Art zu bauen, den mentalen Zustand einer Gesellschaft widerspiegelt, beziehungsweise der mentale Zustand das Bauen fördern oder eben beeinträchtigen kann: Die Finnen haben ein enges Verhältnis zur Architektur und die Allgemeinheit fühlt sich von dem Thema angesprochen. In Deutschland hadern wir mit unserer Baugeschichte und Baukultur und verstehen Städtebau und Architektur als Spezialdisziplinen.
Deutschland hadert, Finnland ist stolz
Warum ist das so? Finnland ist erst seit 103 Jahren unabhängig. Architekten – namentlich Eero Saarinen und Alvar Aalto – haben das junge Land, die Identität der finnischen Nation, im wahrsten Sinne des Wortes erbaut. Die Architekturgeschichte ist eine der Moderne, auf die die Finnen sehr stolz seien, so Turit Fröbe (Lesen Sie dazu auch das Interview mit Turit Fröbe). Dementsprechend verehre man die Architekten als Volkshelden. In Deutschland ist die Architekturgeschichte viel älter und unübersichtlicher. Die Wahrnehmung der Deutschen sei eine andere, weil die Baukultur durch die Zerstörungen im zweiten Weltkrieg auch eine große Verlusterfahrung sei, findet die Autorin.
Deshalb bereite uns die Moderne große Schwierigkeiten. „Wir haben gelernt, nicht so genau hinzusehen und waren vor allem unmittelbar nach dem Krieg darauf bedacht, architektonisch eher kleine Brötchen zu backen und nicht großartig aufzufallen“, analysiert Turit Fröbe, die auch vermutet, dass die aktuelle Rekonstruktionslust daher rühre, dass man vieles gerne rückgängig machen würde und wieder das haben möchte, was vorher war.
Zu viel Wissen vorausgesetzt
Nach dieser psychologischen Bestandsaufnahme, taucht die Studie tief in organisatorische und strukturelle Details ein, benennt die Akteure in Finnland, die Initiativen zur Baukulturvermittlung und deren einzelne erfolgreiche und weniger erfolgreiche Schritte. Interessant ist, dass die Finnen Baukultur niedrigschwellig vermitteln, während in Deutschland durch die Einteilung in qualitativ gute oder schlechte Bauten immer ein bestimmtes Wissen vorausgesetzt werde.
Baukulturelle Bildung als Allgemeinbildung
Deutschland habe im Gegensatz zu Finnland nie den Bedarf formuliert, dass die baukulturelle Bürgerbildung im Zentrum der Architekturpolitik, beziehungsweise Baukultur-Politik, stehen sollte. Aber darauf kommt es ja an. Wir brauchen keine Baukulturvermittlung für die, die sowieso schon Planerinnen sind, also Profis, sondern für die Allgemeinheit als Teil der Allgemeinbildung.
Turit Fröbe fordert, dass diese Bildung keine Belehrung von oben sein soll, sondern ein Erleben. Kinder sollten zum Beispiel von Klein auf in Schulen lernen, Ihre Umgebung zu erkennen und einzuordnen, nicht nur wie man ein Hochhaus als Modell bastelt. Hier unterscheidet Fröbe ganz klar zwischen handwerklicher Methodik und theoretischem baukulturellen Wissen. Sie zeigt auf, dass man diese Bildung in der Schule mit allem verbinden kann, was schon da ist. Sie wäre kein Extrafach, sondern ein Querschnittsthema, dass in vielen Unterrichtsfächern ergänzend vermittelt werden könnte. Wichtig sei, dass die Lehrkräfte an den Unis lernen, wie man Baukultur vermittelt.
Deutschland hinkt 20 Jahre hinterher
Laut der Studie stehen wir hierzulande jetzt an dem Punkt, an dem die Finnen vor 20 Jahren angefangen haben mit ihrer Architekturpolitik. Und das, obwohl wir auch seit 20 Jahren eine Baukulturpolitik haben. Die baukulturelle Bildung ist bislang nur scheinbar auf einem guten Weg. Turit Fröbe mahnt, dass wir konkrete und zielführende Maßnahmen brauchen. Die Möglichkeiten dazu hätten wir. Es sei dringend nötig, konkrete Bedarfe zu formulieren.
Das hat sie mit diesem Buch getan. Warum aber ist die baukulturelle Bildung für die breite Bevölkerung überhaupt wichtig? Fröbe sagt: „Eine Gesellschaft, die eine Beziehung zur Architektur hat, wird sich nicht mehr alles vorknallen lassen, sondern kann gestalterisch mitwirken.“ Und das ist der Grund, warum es uns allen wichtig sein sollte. Die Baukulturpolitik muss bei der Bevölkerung ankommen, dieses Buch beschreibt wie das geht.
Im Interview berichtet Turit Fröbe, was Deutschland von Finnland lernen sollte. Wie sie Menschen dazu bringt, ihre Stadt liebevoll zu betrachten und warum das der Schlüssel zu einer schöneren Stadt ist, erzählt sie im Gespräch in Kerstin Kuhnekaths Podcast „Architektur als Zweitsprache“.
Turit Fröbe
Architekturpolitik in Finnland
Wie Baukulturelle Bildung gelingen kann
Jovis, 2020
192 Seiten, 35 Euro