Von Florian Dilg
Das Planen und Bauen findet in einem zunehmend engen Geflecht von Normen und Vorschriften statt. Diese bestimmen zum großen Teil die technische Umsetzung von Gebäuden, aber auch deren Dimensionen und Ausstattungsstandards. Dabei treiben sie die Komfortansprüche in perfektionistische Höhen, die unter dem Aspekt der Suffizienz das nachvollziehbar notwendige Maß längst überschritten haben. Dabei drängt sich der Eindruck auf, dass Richtlinien mittlerweile vor allem den Absatz von Produkten und Systemen der Baustoffindustrie sichern sollen.
Architektur spielt untergeordnete Rolle
Kurz gesagt: Bauherren und ihre Planer bestimmen nur noch in einem eng gesteckten Rahmen, mit welchen Schwerpunkten und Qualitäten sie ihr Projekt entwickeln. Und sie entscheiden auch nur eingeschränkt darüber wie die Ziele konstruktiv erreicht werden.
Auf diese Situation können sie nicht mehr mit eigenen Ideen oder Reduzierung der technischen Standards reagieren. Eingespart werden kann nur noch an der Qualität und Nachhaltigkeit von Materialien sowie an räumlicher und gestalterischer Qualität. Zu besichtigen ist mittlerweile eine Neubauroutine, die eine qualitätsarme Gleichförmigkeit bei der Einhaltung höchster Standards erreicht hat.
Da es sich dabei um unser Wohn- und Arbeitsumfeld handelt, hat diese Entwicklung direkten Einfluss auf die Lebensqualität. Dazu kommen die steigenden Mietpreise, die immer weniger Freiheiten für die Lebensführung erlauben.
Die Idee für einen Gebäudetyp E
Neben dem bestehenden System der Gebäudeklassen in der Bauordnung können Bauvorhaben dem Gebäudetyp „E“, im Sinne von „Einfach Bauen“ oder „Experimentelles Bauen“ zugeordnet werden; wie der Sonderbau kombiniert mit den bestehenden Klassen für den Brandschutz, zum Beispiel zur Gebäudeklasse „E 3“. Für diese Projekte gelten die Normen und Richtlinien, auf die Art. 85a Musterbauordnung (MBO) verweist, nicht zwingend. Grundsätzlich gelten die Schutzziele der Bauordnungen, vgl. § 3 (genauer in §§ 12-16): Standsicherheit, Brandschutz, gesunde Lebensverhältnisse und Umweltschutz.
Als Grund für die Einordnung in „E“ kann die Anwendung einer innovativen Konstruktion ebenso gelten wie der Versuch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Am Beginn eines „E“-Projekts steht eine sorgfältige, gemeinsame Festlegung zwischen Planern und Bauherr zu den Zielen und Qualitäten, die frei vereinbart werden können, sich aber an gängigen Standards orientieren können. Diese Aufstellung macht die Eigenschaften des Gebäudes dauerhaft transparent. Durch eine sichtbare Kennzeichnung der neuen Gebäudetypen “E“ wird den Verbrauchern angezeigt, dass es sich um ein Gebäude handelt, dass ggf. von gängigen Standards abweicht, ohne dabei aber die Schutzziele der Bauordnung zu missachten. Die Abweichungen können Nutzern gegenüber benannt und erläutert werden.
Dann ist es möglich mit einem reduzierten Regelwerk zu arbeiten, das es Bauherren und Planern ermöglicht, Standards, Materialien und Ausführungsdetails aufeinander anzupassen, sodass sinnvolle und nachhaltige Gebäude zu bezahlbaren Kosten entstehen. Zur Nachhaltigkeit gehört neben der gemeinsamen Zielbestimmung auch eine gute Gestaltung und Abstimmung auf die Nutzerbedürfnisse.
Gebäudetyp E vorerst für sachkundige Bauherren
Begleitet wird die Einordnung in die Gebäudeklasse „E“ von einer Öffnungsklausel im § 650 o BGB, welche die privatrechtlichen Ansprüche auf die genormten Standards löst und den Bauherren freie Hand gibt. Um den Verbraucherschutz nicht zu schwächen, wird „E“ zunächst nur in der Zusammenarbeit mit sachkundigen Bauherren, wie zum Beispiel kommunale Wohnungsbaugesellschaften zugelassen.
Mehr Freiheiten für innovatives und ressourcenschonendes Bauen
Bauherren erhalten wieder Entscheidungsfreiheit über Ihre Projekte, wenn sie neue Wege im Bauen beschreiten wollen. Sie bekommen die Möglichkeit innovativ, normenreduziert und damit kostengünstiger zu bauen. Es entsteht wieder Raum für Innovationen in Richtung Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit.
Ideen zur Erneuerung im Bauen bleiben nicht nur Theorien, die diskursiv gegen den Normenapparat bestehen müssen, sondern sie können real erprobt, erlebt und bewertet werden. Wir rechnen mit vielen guten Beispielen, die in die unterschiedlichsten Richtungen Anstöße zur Weiterentwicklung geben. Die Umnutzung von Gebäuden wird einfacher möglich, da der Wechsel der nutzungsspezifischen Anforderungen kein Hindernis mehr sein muss.
- Notwendige Neuausrichtungen im Bauwesen, wie verstärkte Umnutzungen unter Wiederverwendung des Bestandes und das zirkuläre Bauen können sich ohne Konflikt mit den bestehenden Standards entwickeln.
- Architekten und Ingenieure können kreativer ihre Kompetenz zur Konstruktion in die Bauentwicklung einbringen und Verantwortung in der Entwicklung der Gesellschaft übernehmen.
- Durch einen leichteren Zugang für kleine und mittelständische Handwerksbetriebe kann der Gebäudetyp „E“ den Preiswettbewerb bei Bauprojekten wiederbeleben.
Es entstehen durch den Gebäudetyp „E“ keine Unsicherheiten, da das bestehende System nicht verändert wird. Es wird ein zusätzlicher Planungsweg hinzugefügt, der in einen neuen Raum von Möglichkeiten führt.
Florian Dilg ist Architekt in München und Leiter der Taskforce Gebäudetyp E der Bundesarchitektenkammer
Am 15. September 2022 hat die Bundeskammerversammlung, also das Parlament der 16 Länderkammern, eine Erklärung für mehr Spielraum für Innovationen beim Planen und Bauen beschlossen, die den Gebäudetyp E als Vorschlag beinhaltet.
Lesen Sie außerdem das Interview mit BAK-Präsidentin Andrea Gebhard zum Gebäudetyp E.
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Die Qualität und Aussage des für mich eigentlich überzeugenden Statements wird leider durch die einseitige und übertriebene Auswahl der erklärenden Beispiele (Baudetails) signifikant geschmälert.
Hier extreme Beispiele auf beiden Enden der Skala anzuführen, um auch noch dem letzten Zweifler einzuhämmern, wie übertrieben Deutschland und wie sparsam z.B. Frankreich in den vorgeschriebenen Bauweisen ist, spielt nur denjenigen in die Karten, die diese Argumentation ohnehin grundsätzlich ablehnen möchten.
Da gibt es (auch vom Autor Herrn Dilg selbst) bessere und plausiblere Beispiele, die die übertriebenen Regelungen erläutern und die nicht von jedem halbwegs Sachkundigen mit Leichtigkeit vom Tisch gefegt werden könnten.
Dennoch – gute Initiative
Da kann ich mich nur dem Vorredner anschließen. Ein Wohnhaus mit einer Betondecke d= 30 cm habe ich weder im Einfamilienwohnhaus noch im Mehrfamilienwohnhaus bisher gesehen bzw. geplant. Und in einer Zwischenwand von d= 50 mm wird es schwierig die Elektroinstallation (sowie HLS-Installation) unter zu bringen. In Frankreich ist es in diesem Fall vermutlich üblich, Aufputz-Installationen auszuführen? Vielleicht liegt nicht nur alles an den vielen DIN/EN-Normen sondern vielleicht sind die deutschen Bauherrn einfach nur anspruchsvoller (z.B. Aufputz-Installation in den Wohnräumen, Fußbodenheizung anstatt Heizkörper usw.). Wobei die Normen und Vorgaben z.B. im Bereich der Statik europaweit die selben sein müßten?
M.E. sind in Deutschland auch die 16 verschiedenen Landesbauordnungen, AusführungsVO, Brandschutzbestimmungen usw. für das „komplizierte“ bauen mit verantwortlich.
Kurzer Exkurs bzgl. Statik:
Zwar sind die Grenzzustände der Tragfähigkeit und Gebrauchstauglichkeit europaweit über die Eurocodes geregelt, werden aber national über die sogenannten nationalen Anhänge bzw. nationale Anwendungsdokumente modifiziert, woraus wieder unterschiedliche Bemessungsergebnisse resultieren.
Vor ein paar Jahren habe ich mal für ne Sprinkleranlage unter nem Fabrikdach in Frankreich ne Statik erstellt. Unter eigenem Namen, nicht anonym, wie in Frankreich üblich. Der Prüfingenieur hat freudig angerufen, weil er noch nie Kontakt zu einem Aufsteller einer Statik hatte. Warum? In Frankreich haftet jeder, der irgendetwas an einem Gebäude macht, gegenüber dem Bauherrn, auch für fremde Gewerke. Um also nicht belangt zu werden, werden die Planungsleistungen oft anonym erstellt. Ich hatte bei meiner FRANZÖSISCHEN Berufshaftpflicht mal nachgefragt, um das Projekt zu versichern. Die haben sich kaputt gelacht und gesagt, das würde mehr kosten, als ich für HOAI-Höchstsätze in Deutschland abrechnen könne. Ich sollte besser über ein in Deutschland niedergelassenes Tochterunternehmen das abwickeln. Nach Deutschem Recht.
Ich sehe das, wie in den beiden ersten Kommentaren dargelegt. Speziell das Beispiel aus Frankreich kann man m.E. nicht heranziehen. Eine Decke ohne jeglichen Aufbau und eine Art Kartonwand mit dem „deutschen“ System zu vergleichen, ist schlichtweg unseriös.
Die Beschränkung auf den fachkundigen Bauherrn ist nur eine Seite der Medaille. Da Deutschland nach meiner Erfahrung auch das Land der Rechtsschutzversicherung ist, wird der erste Prozess seitens eines Mieters nicht lange auf sich warten lassen. Wenn dann nach ein paar Jahren der BGH eine Entscheidung gefällt hat, werden sowohl die Planer, als auch die Bauherren wissen, ob der prinzipiell gute Ansatz durchgängig machbar ist.
Abschließend oute ich mich als Prüfingenieur, den oft als Bauverhinderer betrachteten Menschen, die allen Planern nur das Leben schwer machen wollen. Ich habe meinen Sitz in Bayern und hier wird ausschließlich die Standsicherheit geprüft. Selbst der z.B. in der Holzbaunorm geforderte Schwingungsnachweis geht mich nichts an, da es sich um ein reines Komfortkriterium handelt.
Es gibt aber auch noch einige wenige Bundesländer, in welchen der Schallschutz auch geprüft werden muss. Das halte ich im Sinne der öffentlich-rechtlichen Anforderungen für Unsinn.
Interessanter Vergleich mit Frankreich.
Ich lebe und baue seit einigen Jahren in Frankreich und habe deshalb die Vorzüge und die Schwächen des französischen Systems kennengelernt.
Offiziell verwendetes Baumaterial muss hier der Norme française (NF) entsprechen. Das ist ein Normungsprozess, der nach meiner Einschätzung vor allem französische Produkte vor Konkurrenz aus dem Ausland schützt. Ein mittelständischer deutscher Hersteller von reinem Kalkputz (nichts drin ausser Kalk und etwas Zellulose) muss sich für den Vertrieb seines Produkts nach NF zertifizieren lassen. Für kleine und mittelständische Unternehmen viel zu aufwändig und zu teuer. Für die „bauchemisch verfeinerten“ Produkte beispielsweise von Saint Gobain hingegen kein Problem. Soviel zum Thema „Absatz von Produkten und Systemen der Baustoffindustrie sichern“.
Trennwände werden in Frankreich tatsächlich in 50 mm Stärke ausgeführt. Die Installationen werden dabei nicht auf Putz verlegt sondern in der Wand – diese besteht aus Hohlziegeln, in denen man die Leitungen verlegen kann. Schallschutz sollte man jedoch nicht erwarten, ebenso wie bei der dargestellten Deckenkonstruktion. Mit diesen Konstruktionen weiss jeder Bewohner, was in den anderen Räumen des Hauses (einschließlich Toilette) gerade los ist. Die dünne Wandkonstruktion ist keine neuartige französische Erfindung, sondern findet sich bereits in 100-jährigen unsanierten Gebäuden. Franzosen sind bei der Frage des Schallschutzes im eigenen Haus offenbar deutlich toleranter, beim Lärm des Nachbarn jedoch nicht zwingend auch. Wie in Deutschland gibt es in Frankreich selbstverständlich auch Trennwände aus Gipskarton oder Gips-Wandbauplatten. Im bauaufsichtlich unkontrolliertem Selbstbaubereich sind letztere in Frankreich erste Wahl.
Zusammengefasst kann man nicht generell sagen, dass in Frankreich experimenteller, freier oder innovativer gebaut wird. Die Ausführungsqualität ist in einigen Gewerken deutlich besser, in anderen deutlich schlechter. Die Bürokratie – bis hinein in die ehemaligen staatlichen Unternehmen für Strom, Wasser und Gas – ist selbst für bürokratiegeplagte Berliner eine endlose und undurchsichtige Katastrophe und: die Bau- und Immobilienpreise sind extrem hoch. Französische Zwischenwände und Decken ohne Schallschutz sind keine Innovationen, sondern billige Konstruktionen, die französische Bauherren am Ende genauso teuer bezahlen wie „aufwändige“ deutsche Konstruktionen. Die Definition von „experimentellem, kosten- und ressourcenschonendem Bauen“ greift mit der dargestellten Perspektive meiner Meinung nach zu kurz.
Gebäudetyp E wie „einfach nur Unsinn“
Einfach Bauen geht heute schon. Normen müssen nicht alle angewandt werden, wenn für das Vorhaben nicht relevant. Im Übrigen kann man bereits heute die Nicht-Einhaltung von Normen (sofern nicht in den Baubestimmungen des Bundeslandes verankert) mit dem Bauherrn privatrechtlich vereinbaren. Welcher institutionelle Bauherr schon seinem Architekten Freigabe für die Freiheit von ALLEN Normen geben? Ganz vergessen wurden auch alle anderen am Bau Beteiligten wie Tragwerksplaner, Fachprojektanten, Handwerker, Versorgungsunternehmen…
Der Titel ist verlockend, der Inhalt mit den überzogenen Beispielen und Zahlen leider populistisch und unseriös. Einfach bauen geht auch heute schon. Das Interview mit Florian Nagler ist gut inspirierend, aber selbst diese Bauten sind nicht normfrei entstanden. Wenn ich eine Außenwand ohne luftdichte Schicht hinbekomme und die Feuchtesicherheit nachweisen kann – prima.
Der Nachweis für die Standsicherheit der reinen Betonwand wird auch erstellt worden sein.
Ein Energiekonzept, dass vorrangig auf Speichermassen setzt, braucht Einstrahlung, also Standort und Ausrichtung. Der Architekt ist hier umfassender als üblich gefordert, was ja begrüßenswert ist. Aber kommt er ohne Gebäudesimulation aus?
Für temporäre Bauten gibt es Spielräume und – auch gestalterische – Möglichkeiten.
Anders sieht es bei Bauteilen aus:
Für Fenster und Türen, vermutet einfache Bauteile, gibt es unzählige Klassifizierungen und Ausführungsdetails, die im LV die Seiten füllen. Winddruck, Schlagregensicherheit, Einbruchsicherheit, Belastungsklasse der Beschläge, Schließfunktionen… Was davon ist verhandelbar, oder egal?
Im DAB zum Thema Ausland war auch schon zu lesen, wo ausländische Architekten tendenziell wahnsinnig werden, z.B. Italien. Jede Kommune hat ein eigenes umfassendes Baurecht. Wie seriös die Aussagen damals waren, erscheint mit zur Zeit fraglich.
Die obigen Leserbriefe aus der Praxis und Normenarbeit sind eine willkommene Ergänzung des redaktionellen Inhalts.
Eine Doppelung möchte ich vermeiden. Daher ist mein Kommentar, der auch hier hin gehört hätte, heute eingestellt unter dem Titel „Der Gebäudetyp E nimmt Form an“ im Deutschen Architektenblatt 07.2023.
Viel Freude beim Lesen! Reaktionen fände ich spannend!