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Gemeinschaftlich wohnen damals und heute

Ein neues Buch zeigt, dass das Wohnen in Gemeinschaft ein menschliches Leitmotiv ist. Die Architektur muss aber Angebote schaffen, sonst wird das Zusammenleben wieder verlernt. Viele aktuelle Beispiele lassen auf eine Renaissance der Idee hoffen

Von: Christoph Gunßer
Christoph Gunßer ist für das DAB vor allem in Süddeutschland...

10.03.20204 Min. Kommentar schreiben
Buchcover Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens
„Modelle des Zusammenlebens“: von frühsozialistischen Konzepten bis zum Co-Housing von heute.

Wie bei allen Versuchen, Architektur wissenschaftlich zu systematisieren und zu fassen, besteht auch bei diesem Buch, das aus dem ETH Wohnforum hervorgegangen ist, die Gefahr des Zerredens von etwas, das nur erlebt werden kann – wie etwa das eminent wichtige Thema der Übergänge von Öffentlich zu Privat zeigt, das in diesem Buch ohne ein einziges Foto auskommt. Doch sollten sich Leser nicht vom ziemlich trocken-soziologischen Stil des Werkes schrecken lassen – es versammelt tatsächlich wichtige Fakten und Erfahrungen zu einem hochaktuellen Thema.

Zusammenleben immer wieder neu lernen

Gemeinschaftliches Wohnen sei unser wohnkulturelles Erbe, heißt es da in der Einleitung. Nur gingen uns in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrungen dazu verloren. So machte jede neue Generation auf der Suche nach dem kollektiven Wohnen die alten Fehler. Aus historischen und aktuellen Beispielen zu lernen ist darum das Anliegen des Buches.

Historische Beispiele gemeinschaftlichen Wohnens

Angefangen beim legendären Konzept der Phalanstère des Frühsozialisten Fourier, das noch beim Schlossbau anknüpfte, über weitere paternalistische Projekte wie Ledigenheime bis zu Einküchenhäusern und zu Howards höchst einflussreicher sozialreformerischer Gartenstadt-Idee spannt sich der erste Bogen, wobei die Systematisierung in ökonomisch, politisch und sozial getriebene Entwicklungen nicht ganz einleuchtet. Waren es nicht stets komplexe Motive und Umstände, die zu den Wohnprojekten führten? Da gibt es zumindest viele Überschneidungen.

Co-Housing in Skandinavien immer aktuell

Die starke Kollektivbauphase der Zwischenkriegszeit, etwa mit dem Karl-Marx-Hof in Wien, brach in den 1930er Jahren abrupt ab und fand zumindest in Deutschland erst mit dem Wertewandel ab den Sechzigerjahren eine Fortsetzung. Das Buch zeigt, dass es dagegen vor allem in Skandinavien eine eindrucksvolle Kontinuität des „Co-Housing“ gab, die sehr weitgehende Kooperation, etwa beim gemeinsamen Kochen, beinhaltete. Hier knüpften jedoch erst, bald eher pragmatisch, die Baugemeinschaften der Neunziger an, während zuvor viele politisch initiierte Versuche, etwa in Großwohnsiedlungen, scheiterten.

Architekten müssen Angebote schaffen

„Es ist nicht die Architektur, die zum Erfolg oder Misserfolg des gemeinschaftlichen Wohnens verhilft, sondern der Mensch mit seinem Zutun und Beitragen.“ Das schreiben die Autoren und meinen vermutlich, dass die Menschen bereit sein müssen, sich auf Gemeinschaftsprojekte einzulassen.  Die Architektur aber, das zeigen viele Beispiele, entscheidet mit ihren Angeboten sehr wohl darüber, ob kollektives Wohnen gelingen kann: So erwies es sich oftmals als Fehler, die Angebote – wie Dachterrassen – abgekoppelt vom Alltag anzuordnen und die Nutzer mit leeren Räumen allein zu lassen. Hier kommt Planern in „inszenierten Nachbarschaften“ sehr wohl eine wichtige Rolle zu. Aber natürlich spielt in den heute üblichen partizipativen Prozessen das soziale Miteinander eine zentrale Rolle. Ideal ist hier, wenn Architekten Teil des Kollektivs sind und Geburtshelfer von passenden Räumen sind.

Kollektives Leben in serieller Form

Die wiederkehrende grafische Stilisierung zum Kreis auf den Titeln im Buch trifft übrigens längst nicht immer das Wesen der Projekte. Gerade die funktionalistischen Bauten für Kollektivhäuser folgten in der Regel linear-seriellen Mustern. Dass der archaische Kreis auch Aspekte von Totalität und Kontrolle umfasst, die nicht mehr in diese individuelle Zeit passen (wie in Dave Eggers´ Roman The Circle vorgeführt), wäre wohl eine Anmerkung wert gewesen. Überhaupt fehlt eine typologische Sichtung und Wertung der Projekte und ihrer Bestandteile, wie etwa des Laubenganges oder von Dachterrassen. Das müssen fachkundige Leser selbst aus den Plänen herauslesen.

Cluster-Wohnen auf dem Vormarsch

Besonders nützlich dürfte die Dokumentation der noch aktuellen Wohnprojekte sein, wobei diese hier unter Wohn- und Kulturprojekte geführt werden, da sie einen ganzheitlichen Anspruch von Wohnen und Arbeiten sowie Freizeitangeboten zeigen. Das vor allem in der Schweiz weit entwickelte Cluster-Wohnen, das etliche Kleinwohnungen mit Gemeinschaftszonen kombiniert (und offiziell oft noch als „Wohnheim“ genehmigt werden muss), erlebt auch hierzulande einen Aufschwung. Dazu gibt es gut dokumentierte Pionier-Beispiele im Buch.

Zahlen, Daten, Fakten zum Wohnen

Farblich zonierte Grundrisse, Daten und Flächenbilanzen, im besten Fall auch die gerade hier sehr wichtigen Bewertungen nach Jahren des Bewohnens machen das Buch auch für Praktiker nutzbar, während die Einordnungen in seitenlangen bilderlosen Texten zum zugrundeliegenden gesellschaftlichen Wandel wichtig, aber teils eher mühsam zu lesen sind.

Insgesamt ein verdienstvolles Buchprojekt, das eine wachsenden Bewegung im Wohnungswesen unterfüttern und ihr Schwung geben könnte.

 

Susanne Schmid, Dietmar Eberle, Margrit Hugentobler (Hg.)
Eine Geschichte des gemeinschaftlichen Wohnens
Modelle des Zusammenlebens
Birkhäuser, 2019
324 Seiten, 39,95 Euro

 

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