Von Christoph Gunßer
Während sich Internet-Plattformen heute als „digital town square“ darstellen, verkümmert die Lust an realen urbanen Stadträumen keineswegs. Gerade in der Pandemie entdeckten viele Menschen die Potenziale ihres Wohnumfelds, und Städtereisen boomen.
Fundus urbaner Situationen
Wovon diese Zuwendung vorwiegend zehrt, zeigt dieser voluminöse, gut sortierte Atlas (viel mehr ist er leider nicht) sehr anschaulich: Auf der Basis von Katasterplänen wurden akribisch Raumkanten und Profile bekannter und auch weniger bekannter historischer Stadträume gezeichnet. Fotografische Impressionen und zum Teil Luftbilder derselben Situation komplettieren die Dokumentation.
Damit verdient das im Rahmen der Nationalen Stadtentwicklungspolitik geförderte Kompendium durchaus den Titel Standardwerk – nicht nur für „Entwerfer“, sondern auf den ersten Blick auch für interessierte Laien. Herausgeber ist das von Christoph Mäckler gegründete Deutsche Institut für Stadtbaukunst der TU Dortmund, dem auch die meisten der Autoren verbunden sind.
Urbane heile Welt
Das Institut hat sich in der Vergangenheit mit entschiedener Kritik am modernen Städtebau hervorgetan, etwa mit der Wanderausstellung über Plätze in Deutschland 1950 und heute. Hier nun wendet es sich der „heilen Welt“ der fast ausschließlich vormodernen Stadtbaukunst zu, deren Wert und Formenreichtum unbestritten ist. Camillo Sitte lässt grüßen (und wird auch öfters zitiert).
Neben mittelalterlichen Marktplätzen finden indes auch viele Beispiele aus der Gründerzeit und der Reformära zu Beginn des 20. Jahrhunderts Beachtung, wie sie der hier ebenfalls beteiligte Wolfgang Sonne bereits in einem eigenen Werk vorgestellt und analysiert hat. Wie vielfältig sich etwa Baublöcke und Höfe ausformen lassen, führen die Autoren eindrucksvoll vor Augen.
Keine direkte Anleitung zum Städtebau
Eine direkte Anleitung zum Städtebau jenseits von Reihenhaus und Würfelhusten folgt daraus aber keineswegs, eher die vage Inspiration, dass es auch anders geht. Mit der Anleitung ist es nicht weit her; dies ist kein Lehrbuch, das einen beim Betrachten der (zumeist anonymen) Meisterwerke explizit an die Hand nimmt.
Nicht einmal ein elementares Werkzeug des Stadtraumentwurfs wie der Visierbruch findet Erwähnung, mit dem Blickachsen gezielt (durch Bauten oder Topografie) unterbrochen und dadurch Raumabfolgen spannend inszeniert werden. Insofern ist dies doch eher ein Buch für Kenner der Materie.
Wie konnten diese spannenden Stadträume entstehen?
Vermissen werden Stadtforscher an vielen Stellen auch Erläuterungen zur Genese der so spannenden Räume, was ja im Umkehrschluss erklären würde, warum heute nicht mehr so gebaut wird; nur bei James Hobrechts Berliner Stadterweiterung erfährt man mal etwas zum Immobilien-Aspekt der Planungen.
Die Beispiele sind zwar morphologisch gut kategorisiert, und einleitende Texte bieten einigen Hintergrund. Sehr erhellend ist etwa der Aufsatz von Jan Pieper zur weltweit einzigartigen Rolle des europäischen Stadtplatzes und derjenige von Werner Oechslin zum Embellissement (Ausschmückung) des Stadtkörpers.
Einseitiger Fokus auf Ästhetik
Dass die Herausgeber vor allem dieser Verschönerung nacheifern, wird in den wenigen zeitgenössischen Beispielen deutlich. So wird die neue Frankfurter Altstadt (die u.a. auf Betreiben Christoph Mäcklers aufertstand) ausführlich gezeigt und ein paar weitere Stadthaus-Ensembles, die tatsächlich dem Stadtraum Vorrang vor individuellem Ausdruck einräumen, ganz im Sinne des postmodernen „New Urbanism“.
Hier wäre man – wie bei den historischen Beispielen – neugierig, welche Regelwerke diese Harmonie und Ordnung ermöglichten. Es geht nicht nur um Städtebau, sondern um Stadtplanung! Leider fehlt in diesem sehr ästhetischen Werk eine solche strukturelle Analyse, wie auch ökonomische Hintergründe der Investitionen im Dunkeln bleiben.
Sehr gut aufbereitete Pläne
Was dieses Werk also zum besonders gut nutzbaren Atlas macht, sind die in Maßstab und Duktus vergleichbaren Pläne. Das Nebeneinander etwa der farblich akzentuierten Schwarzpläne bringt die Eigenarten der jeweiligen Quartiere zum Vorschein. Querschnitte von Straßenräumen lassen Intimität oder Megalomanie (zum Beispiel der Berliner Karl-Marx-Allee) erkennen. Nie werden indes Hausgrundrisse im Bezug zum Stadtraum gezeigt: Gebäude dienen lediglich als Raumkante.
Kann man heute noch so bauen?
Wer die schwierigen Lichtverhältnisse in Hinterhöfen kennt, mag sich der detailreichen Empfehlung von Flügelhaustypen vielleicht doch nicht anschließen. Andererseits stimmt die Feststellung, dass die offenen Höfe moderner Wohnanlagen, etwa von Ernst May im Neuen Frankfurt, im Gegensatz dazu ziemlich öde und undefiniert daherkommen. Was von der historischen Enge unter heutigem Baurecht übertragbar wäre, bleibt leider ebenfalls offen.
Trotz so manch nostalgischer Anwandlungen in Auswahl und Texten: Es gab schon lange keine Veröffentlichung mehr, die so gründlich und anschaulich historische Situationen im Städtebau gezeigt hat. Da lässt sich durchaus viel lernen, ohne daraus gleich mit explizitem Zierrat eine neue Altstadt zu kreieren.
Und dass die reale Stadt von heute kein Gesamtkunstwerk aus einem Guss mehr ist, sondern gerade auch aus Brüchen ihren Reiz bezieht, sollte ohnehin klar sein.
Christoph Mäckler, Deutsches Insitut für Stadtbaukunst (Hg.)
Handbuch der Stadtbaukunst
Jovis, 2022
Vier Bände, 516 Seiten, 128 Euro
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