Von Lars Menz
Nach Schätzungen werden bis zu 90 Prozent aller Menschen im Verlauf ihres Lebens von körperlichen Behinderungen betroffen sein. Bauen ohne Barrieren ist also nichts „Nettes“, wie der Bundesbeauftragte der Bundesregierung für Menschen mit Behinderungen, Jürgen Dusel, feststellte, sondern eine dringend benötigte Maßnahme zur Teilhabe aller Menschen.
Dusel eröffnete Anfang März in Hannover die insgesamt neunte Regionalkonferenz „Inklusiv gestalten – Ideen und gute Beispiele aus Architektur und Stadtplanung“, nach 2017 bereits die zweite in Niedersachsen. Die Reihe wird vom Bundesbeauftragten gemeinsam mit der Bundesarchitektenkammer und den Länderarchitektenkammern seit 2016 durchgeführt und geht in diesem Jahr noch nach Essen, Stuttgart und Dresden.
Kammerpräsident Robert Marlow gab Dusel recht: Eine barrierefreie Architektur sollte nicht mehr die Ausnahme für manche, sondern die Regel für alle sein. Rund 200 Besucher – darunter zahlreiche mit Handikap – gaben dafür lauten Applaus. Marlow betonte den baulich universalen Ansatz, der in barrierefreien Gebäuden unterschiedliche Lebensentwürfe für unterschiedliche Menschen ermöglichen müsse.
Ums Bauen für alle ging es auch in der ersten Diskussionsrunde, die, wie der ganze Tag, von der ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein geführt wurde.
Barrierefreier Wohnraum und inklusive Quartiere
Niedersachsen strebt derzeit eine Änderung der Bauordnung an, um Baulücken oder Aufstockungen für den dringend benötigten Wohnraum besser nutzbar zu machen, wie Stefanie Nöthel, vom Niedersächsischen Bauministerium berichtete. Die Gesetzesinitiative helfe, Wohnungsraum an Orten zu schaffen, wo er sonst nicht entstünde. Die Niedersächsische Landesbehindertenbeauftragte Petra Wontorra, pochte darauf, dass die Barrierefreiheit auch bei diesen Projekten wichtig sei. Ziel müsse es immer sein, inklusive Quartiere zu schaffen und so aufzuzeigen, wie sinnvoll es sei, barrierefrei für alle zu bauen.
Barrierefreiheit ist Standortvorteil
Dusel betonte, dass Barrierefreiheit immer ein Standortvorteil sei, gerade auch im dringend benötigten Wohnungsbau. Barrierefrei zu bauen sei ein Menschenrecht, die oftmals negative Konnotation des Begriffs Barrierefreiheit müsse überwunden werden. Dass grundsätzlich nicht Bedürfnisse einzelner im Vordergrund stehen, sondern zukunftsfähige Gemeinschaften für die Gesamtgesellschaft entstehen müssen, war Konsens der Diskussionsrunde.
Sozial und gut gestaltete Infrastruktur
Wie das konkret aussehen kann, zeigten die Architektin Britta Kerstingjohänner von KPN Architekten aus Braunschweig, Landschaftsarchitektin Gwendolyn Kusters von der Stadt Hannover und Architekt Harald Kiefer aus Sarstedt. Alle drei Best-Practice-Beispiele machten anschaulich deutlich, worin die Chance guter barrierefreier Projekte liegt, sei es im Hochbau oder im landschaftsarchitektonisch gestalteten öffentlichen Raum: in einer sozialen und gut gestalteten Infrastruktur, die eine breite Teilhabe ermöglicht und positiv ins Quartier ausstrahlt.
Wettbewerb und Beteiligung
Im Braunschweiger Beispiel war es eine altengerechte Wohnanlage, die die Selbstbestimmtheit der Menschen in den Vordergrund stellte. Am hannoverschen Hainhölzer Markt zeigte die Architektur von Kiefer+Kiefer Architekten wie hochwertig sozialer Wohnungsbau daherkommen kann, wenn er auf Grundlage eines Architektenwettbewerbs initiiert und gut geplant umgesetzt wird. Der Bauherr hanova Wohnen machte hier alles richtig. Und der neue Stadtteilpark in Hannover-Linden zeigte deutlich, dass der Schlüssel zur inklusiven Gestaltung und deren Akzeptanz, in einer eng mit dem Planungsprozess verbundenen Beteiligung liegt. Kusters zeigte überzeugend, wie daraus ein gelungener Baustein zur Quartiersentwicklung wurde.
Bereits zuvor hatte Ursula Kremer-Preiß von der Deutschen Altenhilfe betont, dass all dies keine Anstrengungen für eine Minderheit sind. Die älter werdende Gesellschaft benötigte dringend eine Fokussierung auf diese Themen – umso wichtiger die guten Fallbeispiele.
Barrierefreiheit ist kein Kostentreiber
Und die Kosten? Torben Maier vom Projektentwickler Terragon Projekt aus Berlin zeigte sachlich auf, dass von 148 Kriterien für Barrierefreiheit 138 keine Kostentreiber sind – zumal die Industrie mittlerweile für viele bauliche Details kostenneutrale Lösungen anbiete. Am Ende seien Mehrkosten zwar vorhanden, aber überschaubar. Er forderte, dass die KfW sich stärker in der Förderung des Neubaus engagiere müsse, um in diesem Segment, weitere Anreize zu schaffen.
Selbstbestimmt leben
Am Ende des Tages zeigte eine junge Bewohnerin des Hainhölzer Marktes fröhlich lächelnd auf, was Inklusion wirklich bedeutet. Für Maren Nacke bot ihre barrierefreie Wohnung die Chance, von der Nordseeküste nach Hannover zu ziehen, eine Ausbildung zu beginnen und sich mit ihrem Rollstuhl ins selbstbestimmte Leben zu stürzen. Hannover sei mit seinem Angebot im Vergleich auch gut aufgestellt, bestätigte Andrea Hammann, Behindertenbeauftragte der Landeshauptstadt. Marlow dankte ihr, dass sie Bauanträge intensiv nach Inklusionsgesichtspunkten überprüfe und so das Thema voranbringe. Der Berufsstand sei gleichwohl bereits sensibilisiert. Hammann gab den Dank zurück, viele barrierefreie Projekte seien sehr gut gestaltet.
Barrierefreiheit nutzt der Gesellschaft als Ganzes
Fazit: Barrierefreiheit ist leistbar und nutzt der Gesellschaft als Ganzes. Jürgen Dusel hob das Thema noch ein Stück höher: Ihm ging es auch um die Frage, in welchem Land wir leben wollen. Gerade in Zeiten, in denen bestimmte politische Kräfte die gelebte Vielfalt in Deutschland infrage stellten, sei es umso wichtiger, das Versprechen auf Teilhabe konkret auszufüllen. Die soziale Dimension der Barrierefreiheit sei entscheidend und er wünsche sich ein buntes, offenes Land. Inklusion umzusetzen, sei Teil der Demokratiearbeit. Aus diesem Verständnis heraus, stellte er seiner Amtszeit als Bundesbeauftragter das Motto „Demokratie braucht Inklusion“ voran. Dem schlossen sich nach diesem Tag alle überzeugt an.
Einen Rückblick auf die bisherigen Regionalkonferenzen seit 2016 bietet die Seite der BAK
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