Nils Hille
Entspannt empfängt der Architekt Andreas Haase im Carsharing-Smart zur Stadtführung. „Ein eigenes Auto brauche ich hier selten. Das Fahrrad ist wunderbar für die Arbeit in der Stadt“, erklärt er und gibt nun ausnahmsweise Gas. Genau eine Handvoll Stationen hat er ausgewählt, an denen er halten will. „Alle fünf zeigen, dass hier etwas passiert – mal im kleineren, mal im größeren Ausmaß.“ Diese Botschaft ist besonders wichtig in einer Stadt wie Halle, in der Arbeitsplätze und Einwohnerzahlen stetig zurückgehen. Letzeter ist seit 1990 um mehr als 80 000 zurückgegangen – ein gutes Viertel.
Diese Entwicklung hinterlässt zahlreiche Spuren, vor allem leer stehende Häuser. Wir passieren einige; Haases Ziel ist aber ein besonderer Leerstand: das 1927 von Walter Tutenberg erbaute Parkhaus Pfännerhöhe, auch bekannt als Großgarage Süd, für das sich jahrelang kaum jemand interessiert hat. Nachdem das Baudenkmal 1992 wegen technischer Mängel stillgelegt wurde, passierte erst einmal nichts. Im Jahr 2003 übernahm der Bauverein Halle & Leuna eG die Großgarage, in der früher die Fahrzeuge über Aufzüge in die oberen Etagen gelangten.
Zwei den Bau verdeckende Vorderhäuser sowie ein baufälliges Nachbarhaus sind mittlerweile abgebrochen. Der Rohbau der Parkgarage wurde gesichert und das Dach erneuert. „Von den damals 150 Plätzen sollen zukünftig 88 wieder genutzt werden; damit hätte die lästige Parkplatzsuche in diesem Gebiet ein Ende“, erklärt Ingenieur Gösta Ahrens, dessen Büro das Projekt koordiniert. Dieses Ziel ist nicht aus der Luft gegriffen.
Am Besichtigungstag für zukünftige Stellplatzmieter waren allein zehn Führungen nötig, um den Ansturm zu bewältigen. Zukünftig werden die Autos aber nicht mehr über einen Aufzug, sondern über die typischen Auf- und Abfahrtspiralen ihren Platz erreichen. Und ein Teil der bisherigen Stellflächen wird als mietbare Lagerräume und als Museumsflächen genutzt. Haase ist begeistert: „Es ist schön, dass mit Wagemut so ein Projekt angegangen wird, und das nicht gerade in einer exklusiven Gegend. Ein gutes und wichtiges Zeichen.“
Einstürzende Altbauten
Weiter geht es zum zweiten Lichtblick, den man erst gar nicht als einen solchen ausmacht. Das Stadtquartier Glaucha südlich der Innenstadt beherbergt die Franckeschen Stiftungen, die wir heute nicht besuchen, und setzt sich ansonsten aus Gründerzeit- und Wohnhochhäusern, Plattenbauten und etlichen Brachen zusammen. Der Sanierungsbedarf ist hoch. Die meisten Privateigentümer wohnen nicht in der Stadt; viele lassen ihre Gebäude verfallen. Vor allem sozial Schwächere leben hier – und 30 Prozent der Wohnflächen stehen leer. „Seit 1990 wurde in die Stadt einiges investiert, doch dieses Viertel blieb außen vor“, erklärt Haase.
Auch heute gibt es kein umfassend griffiges Konzept für Glaucha, doch langsam bewegt sich etwas. Der „Kiosk Pinguin“ im Erdgeschoss eines Altbaus, blau-weiß bemalt und mit großen alten Schwarz-Weiß-Fotografien beklebt, hat zwar architektonisch keine großen Reize. Er ist aber eine wichtige Anlaufstelle des Vereins „Postkultur“. Einfach ein paar alte Stühle vor die Tür stellen, hinsetzen – und schon grüßen die Vorbeilaufenden, bleiben stehen und tauschen sich aus. Das klappt sofort. „Die Leute zusammenzubringen – das schaffen die Engagierten hier“, erklärt Haase. Es sind vor allem Studenten, die den Treffpunkt betreiben und dabei auch noch Veranstaltungen organisieren. So konnte im Juni die „Fête de la musique“ auch in Glaucha aufspielen.
Unterstützung gibt es durch die IBA Stadtumbau 2010. Sieben Stadtentwicklungsprojekte in Halle gehören dazu. In Glaucha ist das Ziel, eine Aufbruchstimmung zu verbreiten. Dafür ist ein Bausachverständiger als Moderator engagiert worden, der die Eigentümer von einer Sicherung ihrer Gebäude überzeugen soll. Auch die temporäre Nutzung der leer stehenden Altbauten wird unterstützt, wie eben der „Kiosk Pinguin“. Eine neu gegründete Standortgemeinschaft hilft seit Mitte Juni bei der Entwicklung von Perspektiven. „Man könnte hier auch gut einige Millionen Euro investieren, aber das Punktuelle bringt manchmal mehr“, meint Haase und springt wieder ins Auto.
Neues hinter alten Mauern
Kontrastreicher zu Glaucha könnte der nächste Ort nicht sein. Haase steuert das architektonische Vorzeigeprojekt der Stadt an – die Moritzburg, die eine besondere Veränderung erfuhr. Zwei vom spanischen Architekturbüro Nieto Sobejano aufwendig umgebaute Flügel bieten jetzt zusätzlichen Platz für das Kunstmuseum. 2004 konnte sich das Madrider Architektenpaar im Wettbewerb durchsetzen. Nun zieht sich ein kantiges Aluminiumdach über den Nordflügel, der eine Turnhalle der Gründerzeit beherbergte, und über den Westflügel, der eine Ruine war. Ansonst haben die Spanier eher schlicht und mit vielen Glasflächen gearbeitet.
Sebastian Sasse, der als Projektarchitekt das Büro vor Ort geleitet hat, führt durch die 1 800 Quadratmeter neue Ausstellungsfläche (siehe „Kulturell“). Nach einigen Schritten berührt er eine der historischen Mauern: „Keiner wusste, was in diesen Wänden drinsteckt. Erst nach einigen Probebohrungen erfuhren wir, wie viel Mauerwerk wir stabilisieren mussten.“ Das Injektionsmaterial verband sich schließlich bei der Vernadelung gut mit dem Mauerwerk.
Haase ist von der Veränderung der Moritzburg begeistert: „Ein gelungener Neubau in alten Mauern. Ich finde es spannend, den Raum so schlicht zu lassen, eine Decke daraufzubringen und etwas reinzustellen.“ Die Begrenzung nach oben im ersten Stock des Westflügels ist teilweise durch einen wie im Raum schwebenden weißen Kasten gegeben. Diese zusätzliche Ausstellungsfläche hängt an der über dem zweiten Obergeschoss gezogenen Decke. Noch geschickter wurde der Bereich unter den Fenstern genutzt. Die aufwendige Haustechnik hat hier hinter einer Verkleidung aus Edelstahlgeflecht ihren dezenten Platz gefunden. Draußen sagt Haase über seinen Kollegen Sasse: „Er ist hier in Halle geblieben. Das finde ich supermutig und es spricht ja auch für die Lebensqualität und Entwicklung der Stadt.“
Ab in die Mitte
Weiter nach Neustadt, dem zu DDR-Zeiten gebauten modernen Gegenstück zum historischen Halle am anderen Saaleufer. Im Kern stehen fast alle der größten, 18-geschossigen Hochhäuser leer und das Zentrum ist abends wie ausgestorben. Doch manches funktioniert noch, etwa ein Einkaufszentrum und eine Passage.
Haase will etwas ganz Neues präsentieren. Im Rahmen der IBA 2010 ist zwischen einem leeren Hochhaus und der breiten Hauptstraße ein überraschender Anziehungspunkt geschaffen worden. Ein Skatepark, der als „Platz für Jugendliche im Wohnzimmer“ dienen soll, wie der Sozialplaner der Stadt Halle, Uwe Weiske, erklärt. Mit „Wohnzimmer“ meint er, dass die Jugendlichen zu ihrer Freizeitgestaltung nicht an den Rand gedrängt werden, sondern mittendrin in Neustadt ihren Treffpunkt haben.
Stadtführer Haase trifft vor Ort den Landschaftsarchitekten Wolfgang Aldag, der den Skatepark geplant hat. Er erzählt: „Zuerst waren natürlich alle sehr skeptisch, auch wegen des Standorts. Doch das entwickelte sich immer positiver weiter.“ Dabei halfen ihm seine sorgfältige Planung, Veranstaltungen, Diskussionen und Presseberichte. Nun gibt es einen Verein, der sich aus der Skaterszene gegründet hat und gemeinsam mit der Stadt die Verantwortung für den Park übernehmen will. Und schon ein halbes Jahr vor der Eröffnung hat ein Gastronom neben der Anlage ein leer stehendes Ladenlokal gemietet und darin einen Imbiss neu eröffnet. Weitere könnten folgen.
All das sind kleine Entwicklungsschritte, die aber enorm wichtig für Halle-Neustadt sind. „Der Skatepark ist einer der größten in Europa. Das zieht auch überregionales Publikum an“, sagt Aldag. „Und vielleicht ziehen später sogar mal einige davon nach Neustadt“, ergänzt Haase, der lachend nach eigenem Bekunden „leider zehn Jahre zu alt für das Skaten auf der Anlage ist.“
Zweimal umgebaut
Gut gelaunt fährt der Architekt, der gemeinsam mit dem Kaufmann Tore Dobberstein das Büro „complizen“ in Halle und Berlin betreibt, zur fünften und letzten Station seiner Stadtführung, vor der er nun parkt.
Hier, am Rande des Innenstadtkerns, haben die beiden „complizen“ vor neun Jahren das Restaurant „Zazie“ in ein Geschäftslokal mit Bar und Kino hineingebaut. Leider konnte es sich nicht halten. Gerade als es schloss, suchten Haase und Architektenkollege Christian Däschler nach Räumen für eine Architekturgalerie. Das passte: Letztes Jahr konnten sie „archcouture“ gründen und in dem Restaurantteil der dreigeteilten Immobilie eröffnen (siehe „Erlebenswert“). „Wir wollen ein Forum für Baukultur bieten.
Arbeiten von Architekten und anderen Künstlern sollen in Ausstellungen dazu den Rahmen geben“, erklärt Haase. Und das ist auch schon in kurzer Zeit viermal gelungen, zum Beispiel mit einer Schau zur Verleihung des Hannes-Meyer-Preises des BDA-Landesverbandes Sachsen-Anhalt.
Durch die unmittelbare Anbindung an Kino und Bar sind Filmvorführungen und Clubabende möglich (siehe „Kulinarisch“). AEine Kooperation mit Schulen und Kindergärten fand schon statt. Viele weitere Ideen hat Haase im Kopf: „In Kombination mit der nahe liegenden Moritzburg kann es uns gelingen, die Aufmerksamkeit auch mal nach Halle zu ziehen.“
Kulinarisch
Chateau und Co. Überrascht mit delikaten Speisen und Weinen.
Zazie Kino und Bar Verbindung von besonderem Kinoprogramm mit gelungener Bar.
Il rospo Biogemüse, Biofleisch und Biofisch – alles schmackhaft zubereitet.
Kulturell
Stiftung Moritzburg Wechselnde Ausstellungen und diverse Veranstaltungen an dem Pflichtort bei Stadtbesuchen.
Stadtmuseum Halle Prächtiges Christian-Wolff-Haus aus der Renaissance mit wechselnden Ausstellungen.
Kunst- und Naturalienkammer Ältester deutscher Museumsraum mit 3 000 Naturalien, Kuriositäten und Artefakten.
Entspannend
Apart-Hotel Haus mit Theaterambiente, in guter Lage.
Rotes Ross Edles Hotel mit 300-jähriger Geschichte.
Erlebenswert
move Aktuelle Medienkunst aus Europa als Ausstellung vom 9. bis 25. Oktober.
archcouture Wechselnde Architekturausstellungen in der Galerie für den zeitgenössischen Raum.
Langer Abend der Galerien Fünfte Auflage der Veranstaltung, an der sich die Galerien der Stadt bis in den späten Abend präsentieren: 5. November.
Buchtipp
Jürgen Tietz
Nieto Sobejano. Das neue Kunstmuseum in Halle.
14,90 Euro, 80 Seiten, Hirmer Verlag