Von Roland Stimpel
„Selbstverwaltung als Chance“
Alf Furkert gesteht offen: Die Gründung der Kammer Sachsen im April 1991 „ist ein Stück an mir vorbeigegangen“. Nicht aus Desinteresse, sondern weil er kurz nach dem Diplom von 1990 noch nicht hätte eintreten können. Ein Jahr später holte er das nach – „sofort, als ich die geforderten Erfahrungen nachweisen konnte“. 2001 kandidierte er für die Vertreterversammlung, bald darauf saß er dem Ausschuss für Bau- und Berufsrecht vor. „Das sind nicht gerade die Lieblingsthemen vieler Kollegen – aber es berührt den Kernbereich unserer Arbeit.“
„Selbstverwaltung empfinde ich nicht als Last, sondern als Chance“, meint Furkert. „Es selbst zu tun, ist besser, als verwaltet zu werden.“ Er wurde Vizepräsident und 2009 Präsident in Sachsen. Seine Bilanz nach 20 Jahren Kammer: „Sie hat uns eigenen Raum gegeben und Gutes bewirkt – im Berufsrecht, beim Titelschutz, aber auch dabei, den Titel ‚Architekt’ für Unternehmen zu öffnen. Und wir haben als eine der ersten Kammern einen Fortbildungsnachweis eingeführt und so nachweislich die stets hohe Qualifikation der Architekten nach außen vermitteln können.“ Ein wichtiges Ziel Furkerts für die nähere Zukunft: Das Niveau der Ausbildung darf nicht abgesenkt werden, die Mindeststudienzeit muss vier, besser fünf Jahre betragen. Die Chancen des Bologna-Prozesses liegen im Qualitätsvergleich, nicht im Niveauverlust: „Unsere Kollegen sollen international tätig sein können – und immer mehr sind es auch.“
„Mehr Profit, als manchem bewusst ist“
Schon im September 1990 gründete die Innenarchitektin Jutta Kehr ihr eigenes Büro und erfuhr kurze Zeit darauf vom Engagement einiger Kollegen, eine Kammer zu gründen. Sie war schnell mit dabei: „schon allein, damit wir Innenarchitekten von Anfang an den Fuß in der Tür hatten“. Kehr erinnert sich an eine Versammlung in einem Kinosaal mit Klappsitzen, wo es euphorisch zuging: „Als zum Start ein Sonderbeitrag diskutiert wurde, sprang jemand auf und schlug einen viel höheren Beitrag vor – weil es doch für einen guten Zweck sei.“ Tatsächlich wurde dann der höhere Beitrag beschlossen.
Die Kammer sollte den goldenen Mittelweg zwischen bürokratischer DDR-Enge und haltloser Anarchie bilden. „Uns war klar: Es muss Regularien geben – aber auch die Möglichkeit, sie selbst zu gestalten.“ Für Kehr und viele andere hatte die Kammerarbeit vor allem am Anfang auch die Funktion, Orientierung zu finden. Sie erinnert sich: „Ich habe in meiner alten DDR-Bescheidenheit meine Arbeit damals finanziell weniger wertgeschätzt, als es die Honorarordnung ermöglichte.“
Neben Bürostart, Kammergründung und Neuorientierung im Alltag rief Kehr auch noch den Landesverband des Bundes Deutscher Innenarchitekten (BDIA) ins Leben; heute ist sie Bundes-Vizepräsidentin. Seit der Kammergründung war sie 18 Jahre lang im Thüringer Vorstand, bis sie 2008 den Stab an Jüngere weitergab. Heute bilanziert sie: „Die Kammer ist ein wichtiges Organ, das unsere Interessen vertritt. Das geschieht oft im Hintergrund – manch politisch heikles Thema wird geklärt, ehe es überhaupt öffentlich wird. Wir Mitglieder profitieren davon viel mehr, als dem Einzelnen oft bewusst ist. Die Kammer ist auch das Fundament dafür, dass meine persönlichen Wünsche von 1990 realisierbar geworden sind: sellbstständig sein und gute Innenarchitektur machen.“
„Den Beruf gesellschaftsfähig machen“
Der studierte Garten- und Landschaftsgestalter Reinhard Dietze machte sich 1991 in Schwerin selbstständig – „nicht aus Not, sondern weil ich das als Chance und neue Freiheit gesehen habe“. Schon vor der Bürogründung war er 1990 mit einer Gruppe von Kollegen aktiv, die den Aufbau von Mecklenburg-Vorpommerns Architektenkammer vorbereitete. Als die im folgenden Jahr ins Leben trat, war Dietze als Vertreter der Landschaftsplaner von Anfang an im Vorstand. Was interessierte ihn an der Kammer? „Ich wollte mithelfen, den Beruf wieder gesellschaftsfähig zu machen und aus der Kleinbürgerlichkeit herauszuholen, in die er in der DDR gesteckt hatte.“ Dazu gehörte für ihn, die Selbstverwaltung zu stärken, Baukultur zu pflegen und „Berufsethos und Berufsbild nach vorn zu bringen“ – und die Planung endlich von der Ausführung abzulösen, von der sie bis dahin organisatorisch ein unselbstständiger Teil war.
2003 wurde der damalige Kammergeschäftsführer krank; das inzwischen langjährige Vorstandsmitglied Dietze vertrat ihn zunächst und erhielt später die Position ganz. Sein Büro war zwar recht gut gelaufen, aber er sah „die Chance, noch einmal etwas ganz anderes zu machen und stärker berufspolitisch zu wirken“. Heute ist für ihn die schönste Frucht des Kammerwirkens „der gut vorangebrachte Baukulturprozess“. Mecklenburg-Vorpommerns Landtag hat sich der Baukultur in einem einstimmigen Beschluss angenommen; zweimal kam sie in die Koalitionsverträge.
„Ehrenamtliches Engagement erreicht mehr“
Ines Senftleben war als Mitarbeiterin ihres damaligen Büros im Januar 1990 maßgeblich an der Organisation und Auswertung der legendären Leipziger Volksbaukonferenz beteiligt. Diese steht bis heute für das Ende der DDR-Abrisspolitik, für den Beginn einer demokratischen, öffentlichen Planung und für ein neues Selbstbewusstsein der Architekten. Aus der Konferenz kristallisierte sich eine Gruppe von Architekten heraus, die die Kammergründung vorbereitete. Der Eintritt in die Architektenkammer 1991 war für Ines Senftleben nicht nur von berufspolitischem Interesse: „Darüber hinaus hat mich auch die Idee des Versorgungswerks überzeugt.“
2001 gründete sie ihr eigenes Büro und arbeitet seitdem hauptsächlich für Kommunen im Bereich Stadtumbau und Stadtentwicklung. Das Kammer-Engagement kam aufgrund der Vorschläge von Kollegen 2005 ins Rollen. „Und plötzlich war ich Vizepräsidentin. Das hat mich am Anfang etwas verunsichert, heute längst nicht mehr.“ Sie kümmert sich um Öffentlichkeitsarbeit und organisiert auch mal ein Fachforum zum Thema „Zwischennutzung“, diskutiert Honorarfragen und setzt sich für die Belange der Stadtplaner ein. „Man hat viel mit den Ministerien zu tun, kann Themen wie zum Beispiel öffentliche Förderung platzieren und dabei die Bedeutung der Managementleistung des Stadtplaners herausstellen.“ Für den Berufsstand sei das Versorgungswerk eine der wichtigsten Errungenschaften: „Für eine solide, von uns selbst organisierte Altersversorgung engagiere ich mich aufgrund der zurückgehenden staatlichen Absicherung heute besonders.“
In ihrem Ausblick auf den Deutschen Architektentag am 14. Oktober in Dresden erhofft sie vom Bund eine eindeutige Position zur Stadtentwicklung. „Unklar ist, wohin diese geht – nach Kürzung der Städtebauförderung und der ,Rückbesinnung‘ auf den ländlichen Raum. Wir sollten die Politik im Sinne der Städte stärker in die Pflicht nehmen.“
„Der Berufsstand hat eine Stimme bekommen“
Schon Kerstin Bochmanns Vater Werner Wendisch war Architekt in Chemnitz. Sie selbst hatte gerade ihr Studium in Weimar beendet, als die Wende kam, ihr Vater sich offiziell selbstständig machte und sie gleich anstellte. 1993 war sie dann beruflich reif für Sachsens Kammer. In deren Chemnitzer Kammergruppe fand sie gleich „viele Ältere, die mein Blickfeld erweiterten und deren Erfahrung ich aufsaugen konnte“. Aber sie sah bei sich und den Kollegen auch Wissensdefizite und ging zielgerichtet in den Weiterbildungsausschuss der Kammer. Hier artikulierte sie die Wünsche der Basis: „Ich habe immer Kollegen gefragt: Welche Themen bedrängen euch, wo seht ihr den größten Bedarf?“ Heute sind das Themen wie die VOB, das Haftungsrecht – aber auch Sinnlicheres wie etwa Exkursionen.
Bildung hat sie auch außerhalb der Kammern vermittelt, im Arbeitskreis „Architektur macht Schule“ und mit eigenem Unterricht in einem Dresdner Gymnasium. „Eine wichtige Sache – aber zu umfangreich und pädagogisch-didaktisch so anspruchsvoll, dass man sie ehrenamtlich kaum leisten kann.“ Doch andererseits eine wertvolle Erfahrung, wie die Kammerarbeit überhaupt: „So konnte ich besser über den Chemnitzer Tellerrand hinausblicken, mich berufspolitisch engagieren und Mitglieder anderenorts kennenlernen.“ Im Übrigen war dieses Engagement Familiensache: Ihr Vater leitete zur gleichen Zeit den Sachverständigen-Ausschuss. „Er hat mir mitgegeben, dass man Engagement und Beruf gut miteinander verknüpfen kann.“
Mehr und mehr engagierte sich Bochmann im Lauf der Jahre in der Öffentlichkeitsarbeit – beim Tag der Architektur, 2008 bei Sachsens erstem Architektursommer unter dem Motto „Chemnitz – Stadt der Moderne“, mit Ausstellungen, mit zähem Lobbying bei Kommunalpolitikern. „Der Berufsstand braucht in Chemnitz einen höheren Stellenwert. Die Arbeit dafür fruchtet: Wir merken, dass wir eine Stimme bekommen haben.“
„Sich für kleine Büros einsetzen“
Olaf Baum gründete 1991 in Weimar sein eigenes Büro, das er bis heute unter dem Kürzel P.A.D. mit seinen Kollegen Matthias Leesch und Thomas Freytag betreibt. Fast zeitgleich begann die Kammer Thüringen; Baum erhielt als einer der ersten Stadtplaner die Mitgliedsnummer 0002-91-1-S. Sein Büro gewann bald den ersten Wettbewerb; in der Kammer sitzt er seit deren Gründung im Wettbewerbsausschuss, zeitweise als dessen stellvertretender Vorsitzender. „In den Jahren nach der Wende gab es viele Wettbewerbe – für Ministerien, Hochschulbauten und auch im Städtebau.“ Doch für Thüringer Büros war das kein einfaches Thema. „Anfangs dominierten natürlich die gestandenen Westbüros. Da war es wichtig, sich für junge, ortsansässige Kollegen mit ihren meist kleinen Büros einzusetzen, für Wettbewerbe statt VOF-Verfahren und für möglichst offene Ausschreibungen.“
Daneben kümmert sich Baum um Öffentlichkeitsarbeit. „Ich spüre noch zu oft Skepsis gegenüber unserer Berufsgruppe. Wir müssen immer wieder Überzeugungsarbeit leisten – in der Öffentlichkeit zum Beispiel durch den Tag der Architektur, in der Politik durch genaues Erklären fachlicher Zusammenhänge und das Bohren dicker Entscheidungs-Bretter. Zeitweise vertrat er die Stadtplaner im Kammervorstand. Die Doppelarbeit in Beruf und Kammer erforderte manchmal einen Riesenspagat: Das Büro begann eine rege Tätigkeit in China und engagiert sich jetzt stark im nördlichen Irak. Hier erlebt er immer wieder Neues, daheim fühlt er sich oft wie Sisyphos. „Was die Kammerarbeit betrifft, gilt immer wieder der Satz: Die alten Themen sind auch die neuen. Aber wenn wir sie nicht pflegen würden, dann wären uns viele Themen sicher längst entglitten.“
„Vornehmste Diener“
Das Datum „13. August“ hat Ralf Niebergall zweifach in Erinnerung. „Natürlich 1961 wegen des Mauerbaus. Aber auch 1990. An dem Tag wurde kurz vor der Einheit noch rasch das DDR-Architektengesetz verabschiedet, das dann für die neuen Länder bis zur Verabschiedung eigener Gesetze galt.“ Bald fand sich in Sachsen-Anhalt ein Gründungsausschuss für die Kammer zusammen, der wiederum Niebergall mit der Organisation der Fortbildungen in Halle beauftragte. „Ich weiß gar nicht mehr, wie ich dazugekommen bin.“ Ein halbes Jahr darauf gab es dann die Kammer. „In einer Sparkassenhalle wurden die ersten Mitglieder eingetragen. Die allerersten mussten das für sich selbst machen.“ Niebergall wurde Kammermitglied Nummer 9. Endlich konnte der Berufsstand zeigen, wer er ist. „Wir hatten in der DDR immer darunter gelitten, dass wir uns als Architekten kaum profilieren konnten, weil die meisten von uns in den Baubetrieben saßen. Und da waren alle, die etwas planten, unter dem Oberbegriff ,Projektanten‘ zusammengefasst.“ Seit der ersten Vertreterversammlung ist Niebergall Kammerpräsident, angetreten mit 33 Jahren. Wie er es damals wurde, erzählt er mit einem Augenzwinkern: „Ich hatte Ende 1989 auf einer Architektenversammlung einmal den Mund weit aufgemacht und einen Satz von Schinkel zitiert: ,Lasst uns wieder die vornehmsten Diener der Gesellschaft werden.‘ Da habe ich wohl auf dem Rücken von Schinkel die Kollegen ein bisschen beeindruckt.“ Dazu kam seine Distanz zum DDR-Regime – Niebergall war Architekt im katholischen Bistum gewesen. Zudem kam er aus Halle, der Stadt, die das größte Kontingent in der Vertreterversammlung stellte. Hat es nun geklappt mit den vornehmsten Dienern? „Nicht auf allen Gebieten – aber bei der allgemeinen Wertschätzung der Baukultur sind wir dem Ziel inzwischen doch deutlich näher gekommen. Sie ist heute längst nicht nur Schlagwort für Sonntagsreden. Auch außerhalb der Architektenschaft verbreitet sich die Erkenntnis, dass Baukultur wirklich gebraucht wird.“