Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Kontrolle oder Konsens?“ im Deutschen Architektenblatt 11.2021 erschienen.
Von Rosa Grewe
Letztlich ist es eine Frage von Kontrolle. Wer ein Architekturbüro gründet, ins Risiko geht, Geld investiert und haftet, wird auch das Sagen haben wollen. In der Architektur gibt es traditionell eine große Akzeptanz, dass die Führungsmacht den Bürogründenden gehört. Sie bestimmen den Büronamen, die Arbeitsbedingungen, die Projektauswahl, das Design und die Teamzusammenstellung. Oft bleiben sie die einzige Führungsperson, denn Architekturbüros in Deutschland sind eher klein strukturiert. Die daraus entstehende flache Hierarchie hat durchaus Vorteile: Der Chef oder die Chefin ist direkt ansprechbar, entlastet das Team und übernimmt mindestens alle größeren Entscheidungen. So die Theorie.
Keine alleinige Führungsperson
In der Realität steht die Führungsperson oft in alleiniger Verantwortung für zu viele fachliche, personelle und organisatorische Entscheidungen in zu kurzer Zeit. Das bedeutet für die Büroinhabenden schlaflose Nächte, unzählige Überstunden, Frustration und manchmal auch einen überreizten Umgangston. In der Folge verschlechtert sich das Arbeitsklima sowie die Produktivität und Motivation der Mitarbeitenden. „Der Chef verzweifelt, weil er so viele Mitarbeitende nicht gleichzeitig kontrollieren kann, und die Mitarbeitenden werden orientierungslos. Durch fehlende Führung kommt es zu mehr Konflikten im Team“, wie es der Wirtschaftspsychologe Prof. Carsten C. Schermuly von der SRH Hochschule Berlin beschreibt.
Das Kollektiv als Gegenentwurf
Einige junge Büros versuchen dem entgegenzusteuern, indem sie sich zu Kollektiven oder Mitarbeiterunternehmen zusammenschließen, dem antiautoritären Gegenentwurf zur üblichen Bürokultur. Diese Kollektive sind durchaus erfolgreich, und die Motivation und Identifikation der Beteiligten mit dem Büro ist hoch. Ein Problem aber haben sie: „Ein Wachstum geht für uns derzeit nur in Kooperation mit Menschen, die wir gut kennen“, berichtete das Darmstädter Kollektiv DIESE Studio dem DAB. Außerdem mögen Entscheidungen zwar umso fundierter sein, je mehr fachlich versierte Mitarbeitende mitentscheiden, aber sie verzögern sich auch. Zudem kosten basisdemokratische Prozesse auch mehr Geld und Kraft, je größer die Runde der Beteiligten ist. Ist also Größe der Hauptfeind der demokratischen, an den Mitarbeitenden orientierten Unternehmensstruktur? Wie lässt sich eine andere Bürokultur ohne Kontrollverlust in großen Büros etablieren?
Die eigene Firma als Altersvorsorge
Für eine Antwort auf diese Frage lohnt sich der Blick in eines der größten Planungsbüros der Welt, die HDR Inc. Das amerikanische Unternehmen mit Sitz unter anderem in Deutschland war seit seiner Gründung 1917 etwa 80 Jahre lang klassisch organisiert. Nach dem Verkauf des Planungsbüros 1983 stieg die Unzufriedenheit seiner Mitarbeitenden. Als der Bürohauptsitz aus Omaha nach Denver ziehen sollte, schloss sich die Belegschaft zusammen und kaufte das Unternehmen 1996 zurück. Dabei wurde jeder Mitarbeitende Anteilseigner des Unternehmens; nicht aus links-ideologischer Motivation, sondern für den eigenen Joberhalt am Wohnort und für die eigene Altersvorsorge.
HDR auf Expansionskurs
Im Unterschied zu Kollektiven, Genossenschaften und kleinen Mitarbeiterunternehmen, die tendenziell eher das Gemeinwohl als die Marktwirtschaft motiviert, ist bei HDR die Expansion in neue Geschäftsfelder und die Beteiligung neuer Mitarbeitender ein Teil der Unternehmensstrategie. Mit viel Erfolg: HDR Inc. kaufte seitdem zahlreiche Planungsbüros auf, unter anderem 2013 die Düsseldorfer TMK Planungsgesellschaft. Heute ist HDR über viele Tochterunternehmen in neun Ländern vertreten und hat weltweit rund zehntausend mitarbeitende Eigentümerinnen und Eigentümer.
Beteiligung am Unternehmen ist freiwillig
Einer davon ist der deutsche Architekt Johannes Kresimon, der den Wechsel von TMK zu HDR mitmachte. Heute leitet er zusammen mit Norbert Schachtner als Mitglied der Geschäftsführung HDR Germany, ein eigenständiges HDR-Tochterunternehmen. Er sagt: „Die Mitarbeiterbeteiligung prägt die Unternehmenskultur. Sie ist aber freiwillig. Wer nicht will, muss sich nicht beteiligen.“ Rund ein Viertel der Mitarbeitenden in Deutschland beteiligen sich. Weltweit sind es 90 Prozent der Belegschaft. Die Mitarbeitenden können je nach eigenem Budget ein Gehalts- und Beteiligungsmodell wählen. Sie können ein festes Gehalt beziehen oder ein teilweise variables Gehalt mit einem Anteil am Bruttogewinn des Unternehmens, in Form von Aktien oder Sonderzahlungen. Zudem können Boni in Aktien umgewandelt werden. Am jährlichen Stichtag werden die Aktien des vergangenen Jahres bewertet und entsprechend der Beteiligungsform zugeteilt. Die Beteiligungsform und die damit verbundene Gehaltsstruktur sind also individuell verschieden.
Transparenz beim Thema Gehalt
Während kleine Kollektive wie das Darmstädter DIESE Studio Fairness durch einen für alle gleichen Stundensatz erzeugen wollen, geht das riesige Büro HDR Inc. mit demselben Ziel einen anderen Weg. Hubert Juranek, ebenfalls Architekt und Mitglied der Geschäftsleitung bei HDR, sagt: „Wir versuchen bei den Gehältern möglichst transparent zu sein. Aber natürlich gibt es vom Praktikanten bis zur Führungskraft Gehaltsunterschiede. Fair heißt für uns, die Spreizung klein zu halten und möglichst transparent zu machen. Das verhindert Sprengstoff bei der Belegschaft.“ So lägen die Gehaltsunterschiede bei maximal dem Drei- oder Vierfachen. „Wenig im Gegensatz zu anderen Büros in der freien Wirtschaft“, findet Juranek, der früher Projektleiter bei anderen großen Büros in Deutschland war.
Ein Blick in die BAK-Statistik zeigt, dass diese Spreizung im Vergleich mit anderen Architekturbüros gleicher Größe durchaus im Durchschnitt liegt – die Gehälter aber lägen eher unter dem Durchschnitt, wie Juranek betont: „Die Menschen kommen nicht wegen des Gehalts zu uns.“ Da geht es HDR wie anderen Unternehmen, die sich um eine faire und transparente Gehaltsstruktur bemühen. So sind die durchschnittlichen Löhne im Branchenvergleich zwischen sieben und acht Prozent niedriger, wenn alle Gehälter offenliegen, wie Spiegel online im Februar 2020 in Bezug auf eine Studie der Harvard-Professorin Zoë Cullen berichtete.
Allerdings, vollständig transparent können die Gehälter nach deutschem Recht vom Arbeitgeber nicht offengelegt werden, man dürfe nur Spannen nennen, bedauert Juranek. Beim Thema Geld hat die demokratische Mitarbeiterbeteiligung zumindest in großen Unternehmen also ihre Grenzen, und eine gefühlte Gerechtigkeit muss die Transparenz ersetzen (Lesen Sie hier ein Pro und Contra zu transparenten Gehältern der Bundesagentur für Arbeit). Juranek: „Unsere Bürokultur fühlt sich an wie eine Genossenschaft. Es ist die Erkenntnis, für den eigenen Erfolg und Gewinn zu arbeiten.“ Das Gefühl, Unternehmer oder Unternehmerin zu sein, kann also die Mitarbeitenden motivieren – aber auch den Wunsch wecken, mitzuentscheiden. Aber kann Beteiligung in großer Runde funktionieren?
Hierarchien ja, Hinterzimmer nein
HDR hat diese Frage, zumindest, was basisdemokratische Abstimmungen anbelangt, für sich mit Nein beantwortet. „Bei uns gibt es klassische Hierarchien und Reportingstränge. Entscheidungen werden von einem verantwortlichen Team der Führungskräfte getroffen“, berichtet Kresimon. „Wir versuchen, den Mitarbeitenden möglichst viel Souveränität und Selbstbestimmtheit zu geben, aber das kann nicht dazu führen, dass Hierarchien ad absurdum geführt werden.“ Trotzdem unterscheide sich die Arbeitsweise von anderen Büros. Man vermeide Hinterzimmerentscheidungen. Stattdessen fördere man eine offene Diskussionskultur im Team und eine größtmögliche Durchlässigkeit von Informationen.
Entscheidungen nachvollziehbar
Juranek erläutert: „Wir versuchen Entscheidungen nicht von oben nach unten zu fällen, sondern auf eine breite Basis zu stellen, offen im Team zu diskutieren und Abwägungen offenzulegen.“ So gibt es zum Beispiel für die Projektakquise Teams mit unterschiedlicher Fachlichkeit, die gemäß einer festgelegten Matrix Risiken und Chancen eines Projektes abwägen und eine Empfehlung abgeben, nach der die Geschäftsführung entscheiden kann. Kresimon sagt: „Allerdings macht das die Entscheidungsprozesse auch komplexer.“
Veränderungen nicht von allen getragen
Was passiert, wenn Mitarbeitende Entscheidungen nicht mittragen, erlebte das Büro in den letzten Jahren während eines internen Veränderungsprozesses. Das Büro strukturierte sich und seine Arbeitsweisen um, um digitaler, dynamischer und zukunftsfähiger zu werden. Einige Mitarbeitende trugen diesen Prozess nicht mit, verließen das Unternehmen und machten ihrem Ärger auf Online-Plattformen Luft. Zu groß war das Gefühl, nicht ausreichend gehört und beteiligt zu werden. Sie ärgerten sich mal über Überforderung, mal über stagnierende Prozesse. Die Bürokultur, die sie mit einem mitarbeitergeführten Unternehmen assoziiert hatten, deckte sich offensichtlich nicht für alle mit der Realität. Kresimon gibt sich selbstkritisch: „Ich würde mich heute mehr beraten lassen, wie man Veränderungsprozesse besser organisiert und vor allem die ältere Mitarbeitergeneration mitnimmt. Da haben wir sicher Fehler gemacht.“
Teamzusammensetzung und Personalfragen
Allerdings gehen nicht alle unzufriedenen Mitarbeitenden freiwillig, sprich: Die Tatsache, Eigentümer oder Eigentümerin zu sein, schützt nicht vor einer Kündigung. Juranek sagt: „Wir nehmen es ernst, wenn Mitarbeitende nicht zusammenpassen.“ Wer nicht zum Team passt, wird gebeten, das Team zu wechseln. Über Personalfragen entscheiden die Führungskräfte in Rückkopplung mit den Team- und Projektleitenden. Juranek führt dazu aus: „Auch Neueinstellungen können bei uns etwas länger dauern, denn es gibt mehrere Gesprächsrunden mit mehreren Beteiligten, den fachlich und den personell Verantwortlichen. Letztlich muss man schon vom Wesen her zu uns passen. Fachlich lässt sich vieles erlernen, aber ein Mensch lässt sich schwer ändern.“
Diversität braucht lange bis zur Führungsebene
Ein sogenannter „Global Inclusion, Diversity and Equity Council“ gestaltet die Unternehmensstrategien für mehr Respekt, Vielfalt, Gleichberechtigung und Fairness. Ein Blick auf die Führungsetage offenbart jedoch fehlende Diversität, es sind durchweg Männer, die das Büro führen. An den Rahmenbedingungen könne es nicht liegen, meint Kresimon, es gebe Coachings, Mentoringprogramme, Weiterbildungen und Deutschkurse für ausländische Mitarbeitende, Teilzeit sei auch in Führungspositionen möglich. Der Architekt erklärt: „Führungspersonen muss man ja aufbauen. Es sind also die Fehler von vor circa zehn Jahren, die jetzt noch nachwirken.“ Er denkt, dass sich die Geschlechterparität in Zukunft ändern werde, man habe jetzt schon viele Frauen als Teamleiterinnen beschäftigt, die in die Geschäftsführung folgen könnten.
Alles in allem funktioniert HDR als Mitarbeiterunternehmen also konservativer, als man es zunächst erwarten würde. Aber Wandel braucht Zeit, wie Juranek betont: „Wir müssen hundert Jahre Bürogeschichte mit den zukünftigen Entwicklungen der Gesellschaft verbinden. Dazu ist die Baubranche eher konservativ.“
Derweil verändern sich gerade die Werte der nachfolgenden Generation in atemberaubendem Tempo: Mehr Diversität, Achtsamkeit, mehr gegenseitige Wertschätzung und mehr selbstbestimmtes und sinnhaftes Tun stehen bei vielen im Zuge der Arbeitssuche ganz oben auf der Agenda. Auch ambitionierte Unternehmen kommen da kaum hinterher. Es bleibt also viel zu tun: für Große, für Kleine – und fürs Ganze.
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