Texte: Nils Hille
Erfurt: ewige Suche nach Menschlichkeit
Den Erfurter Stadtplaner Andreas Jaeger bewegt ein Drama, das mit einem einzigen Satz im fernen Afghanistan begonnen hat. Ali Ahmadi ist gerade mal 19 Jahre alt, als seine Eltern voller Panik zwischen den Lippen hervorpressen: „Wenn du nicht ganz schnell gehst, holen dich die Taliban.“ Sie schicken ihren eigenen Sohn weg in eine ungewisse Zukunft – weil sie ihn lieben. Denn zumindest eines wissen sie: Woanders kann es ihm nur besser gehen als bei ihnen in Afghanistan. Ali Ahmadi hört auf seine Eltern. Er flieht, doch von einem besseren Leben spürt er nichts. Ganz im Gegenteil: Ahmadi erlebt die nächsten zwei Jahre die Hölle. Das doch angeblich so schöne, friedliche und freundliche Europa, in das es ihn voller Hoffnung zieht, zeigt sich von seiner schlimmsten Seite: Als er es endlich bis auf eine griechische Insel geschafft hat, wird er sofort in ein Gefängnis gesteckt. Er fragt sich, warum. Doch das sagt ihm keiner. Und wenn einer etwas sagt, dann versteht er die griechische Sprache nicht. Er fühlt sich wie lästiges Pack behandelt. Ahmadi hat furchtbare Angst und kann die Welt nicht begreifen. Er will doch einfach nur in Frieden leben.
In Griechenland darf er das nicht. Als er nach einem Monat entlassen wird, gibt man ihm nur eines mit auf den Weg: ein Schreiben, in dem steht, er habe das Land zu verlassen. Ahmadi schlägt sich durch bis zum Festland. Von dort versucht er, weiter nach Italien zu kommen. Zweimal entdeckt ihn die Polizei in und unter Lkws, schickt ihn zurück nach Griechenland. Dort landet er wieder im Gefängnis. Beim dritten Versuch klappt es, doch auch in Italien will ihm niemand helfen. Er lebt hier als Obdachloser, genauso wie in Frankreich, seiner nächsten Etappe auf der Suche nach einer neuen Heimat. Doch auch hier kriegt Ahmadi nur zu hören, dass er alles andere als willkommen ist. Nach zwei Jahren Flucht und Furcht kommt er schließlich an der Grenze zu Deutschland an – auch hier wird er aufgegriffen, aber von einer Hilfsorganisation, deren Mitarbeiter das zeigen, was er so lange nicht mehr gespürt hat: Menschlichkeit.
Von dieser leider wahren Geschichte, die sich von 2011 bis 2013
ereignete, berichtet Stadtplaner Andreas Jaeger aus einem bestimmten Grund: „Nur wenn wir uns mit Einzelschicksalen beschäftigen, merken wir, dass es hier um Menschen und ihre schlimme, unverschuldete Lebensgeschichte geht. Dann ist es auf einmal nicht mehr nur die anonyme Masse, die in unser Land kommt und uns vor vermeintlich große Herausforderungen stellt.“ Ein anderes persönliches Fluchtdrama sah Jaeger im Spätsommer 2014 abends in einer TV-Dokumentation. Die Bilder erschütterten ihn so sehr, dass sie ihm nicht mehr aus dem Kopf gingen. Er wollte helfen und suchte im Internet nach Ansatzpunkten. Bei der Kombination aus „Erfurt“, „Flüchtlinge“ und „helfen“ schlug die Suchmaschine eine Seite der örtlichen Diakonie vor. Jaeger klickte drauf, las, rief an, ging vorbei und traf auf eine engagierte Projektleiterin, die sich sehr über sein Hilfsangebot freute und mit der ganz offen darüber sprechen konnte, wie viel er ehrenamtlich leisten kann. „Sie stellte mir dann Ali Ahmadi vor, und schon als wir uns nur so gegenübersaßen, war irgendwie sofort klar, dass die Chemie zwischen uns stimmt.“
Der erste Eindruck war der richtige. Bis heute treffen sich die beiden Männer jede Woche mindestens einmal, häufig auch öfter. Jaeger sagt: „Es ist so einfach, zu helfen. Ein bis zwei Stunden pro Woche reichen. Wenn wir die Hand ausstrecken, nehmen die Flüchtlinge sie schüchtern, aber voller Dankbarkeit sofort an.“ Er unterstützte Ahmadi beim Deutsch- und Mathelernen, das er für den berufsvorbereitenden Kurs und vor allem für sein Leben in Deutschland benötigte. Doch immer häufiger ließen sie die Lehrbücher liegen. Denn viel mehr hilft dem Afghanen das gemeinsame Ausgehen, Erleben und die damit verbundenen Gespräche mit dem Deutschen. Dieser zeigt ihm zum Beispiel, was eigentlich eine Bibliothek ist und wie man sich ganz einfach in einem Sportverein anmelden kann. Und er erklärte ihm, dass er seiner Lehrerin ruhig Blumen schenken darf, weil sie ihm ein Berufspraktikum in einer Tischlerei vermittelt hat, ohne dass er die 30 Jahre ältere Dame gleich heiraten muss.
„Ali hat mittlerweile viel von unserer Gesellschaft kennengelernt. Er war vor allem darüber verwundert, dass wir uns so für andere Menschen interessieren und sie nach ihrem Leben und Befinden fragen. In Afghanistan tritt das Individuum dagegen stark in den Hintergrund“, vergleicht Jaeger. Auch wenn Ahmadi durch seine Erfahrungen sehr verunsichert ist, hat er sich Jaeger gegenüber schnell geöffnet und seine Geschichte der Flucht erzählt. „Ich habe ihn direkt darauf angesprochen und es tat ihm sichtlich gut, endlich mit jemandem darüber reden zu können.“ Und auch dem Stadtplaner bringt der Austausch viel für sich selbst: „Auch ich habe einen neuen Horizont bekommen und mich und mein Wirken kritisch betrachtet. Da steht schnell die Frage im Mittelpunkt, was wirklich im Leben wichtig ist.“
Für Ahmadi ist gerade eines besonders wichtig: sein erster richtiger Job. Er arbeitet nun über eine Zeitarbeitsfirma bei einem Automobilzulieferer und lernt dabei nicht nur viel Fachliches, sondern auch viele Kollegen kennen. „Es war für Ali ein großes Bedürfnis und eine Selbstverständlichkeit, arbeiten zu gehen und keine Sozialleistungen zu beziehen. Jetzt kann er sein Leben selbst finanzieren.“ Seine Eltern wären sicher mächtig stolz auf ihn, doch sie haben keine Ahnung davon, dass ihr Sohn endlich in einem anderen, besseren Leben angekommen ist. Seitdem Ali Ahmadi von ihnen weggehen musste, hatten sie keine Möglichkeit mehr, zueinander Kontakt aufzunehmen. Seit über drei Jahren.
München: Kulturmix durch Kulinarik
Banal klingt es beim ersten Hören, genial klingt es beim genaueren Nachfragen: Wie begegnet man Hungerstreiks von Flüchtlingen, überlegte Architektin Angelika Zwingel gemeinsam mit Freunden und Bekannten Anfang 2014, als diese in München aufkamen. „Mit Kochkursen“, war die erst albern anmutende und dann doch zielführende Antwort. „Wir suchten einen Anknüpfungspunkt, um etwas gegen die Konflikte zu tun, der trotz Sprachbarrieren und Kulturunterschieden greift. Da war und ist gemeinsames Kochen und Essen genau das Richtige“, erinnert sich Zwingel.
So kam neben der Arbeit im eigenen Büro Architektur Zwingel Dilg eine Mischung aus Hobby und ehrenamtlichem Engagement hinzu: Die engagierte Bayerin und ihre Mitstreiter nehmen seitdem Kontakt zu Flüchtlingsunterkünften auf und tragen ihre Idee vor. „Culture Kitchen“ nennen sie ihr Projekt. Dass jeder die Lieblingsspeisen aus seiner Heimat kochen und somit den anderen Gästen näherbringen kann, stößt auf große Begeisterung – unter den Flüchtlingen wie unter den Münchnern, die zu gleichen Teilen bei den sogenannten „Kochsessions“ von Culture Kitchen dabei sein können. „Wir bieten über das gemeinsame Essen eine Plattform. Über diese können wir alle viel leichter miteinander ins Gespräch kommen als sonst, wenn oftmals Unsicherheiten die Gedanken dominieren.“
Die Kontaktaufnahme per Kochen findet zweimal im Monat in Nachbarschaftstreffs in immer wieder anderen Ecken Münchens statt. Auch wenn dies mangels geeigneter Küchenausstattungen immer wieder mal improvisieren bedeutet, erfüllen die Orte doch sehr gut ihren Zweck, wie die Architektin erklärt: „Wir treffen uns gezielt außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte und unserer Wohnungen, damit es für alle Beteiligten eine ungewohnte und somit auch neutrale Umgebung ist.“ Ohne diesen Heimvorteil wird es für keinen zu privat – und bei den drei bis vier Stunden von der Begrüßung bis zum Abwasch kann das gemeinsame Tun im Mittelpunkt stehen. Genauso wie am Tag zuvor, wenn die jeweils verantwortlichen Hobbyköche zusammen einkaufen gehen. „Allein das ist spannend zu sehen, welche unterschiedlichen Zutaten Syrer, Iraner, Iraker, Afghanen und Senegalesen auswählen und welche sie nie zum Kochen verwenden würden“, so Zwingel.
Bereicherung für alle
Mit zehn Teilnehmern aus verschiedensten Ländern hat Culture Kitchen begonnen. Mittlerweile erreichen sie regelmäßig die Obergrenze von 25 Personen, bei der ein persönlicher Austausch noch möglich ist. Dazu kommen Kinderkochveranstaltungen einmal pro Woche und die Teilnahme an Straßenfesten. Um das ehrenamtlich gestemmte Projekt zu finanzieren, gilt eine einfache Regel: Jeder Einheimische lädt einen Zugereisten ein. Die größere Herausforderung ist für Zwingel, dies alles zeitlich zu stemmen. Ihr als freier Architektin kommt entgegen, dass sie eh keinem „Nine to five“-Job nachgeht. So teilt sie sich die Arbeit in beiden Bereichen zueinander passend ein. „Jeder von uns Organisatoren muss immer wieder schauen, wie viel Zeit er aktuell aufbringen kann. Wir haben schnell gelernt, klar untereinander zu artikulieren, was wir gerade stemmen können und was nicht.“
Gestemmt haben sie vor Kurzem ein besonderes Event: Kochen für die Besucher einer Tagung zum Thema Flüchtlinge in den Münchner Kammerspielen. Es bedeutete viel zusätzliche Arbeit, aber auch gute Erfahrungen für alle Beteiligten: „Es ergeben sich Kontakte zu und Freundschaften mit Menschen, die in derselben Stadt leben, die wir aber sonst wahrscheinlich nie kennengelernt hätten.“ Für Zwingel ist dies zu einer wichtigen Parallelwelt neben den Berufskontakten geworden. „Bei Culture Kitchen geht es nicht darum, Projekte an Land zu ziehen, Geschäfte zu machen und Geld zu verdienen. Hier kann ich mich bewusst für etwas entscheiden und auch einfach ‚Nö sagen, wenn ich etwas nicht mitmachen möchte.“ Und sie kann „Ja“ sagen und etwas annehmen, was ihr als Dank für das Engagement angeboten wird – und was den Begriff „helfen“ in den Hintergrund rücken lässt, den sie ohnehin nicht mag, weil er so einseitig klingt: Sie und andere Helfer machen bei einem Flüchtling, den sie durchs Kochen kennengelernt haben, nun einen Arabischkurs. Da gab es auch erst einmal Sprachprobleme, aber diesmal nur für die Deutschen.
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