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„Raus aus den Schubladen“

Mehr Architekten sollten Unternehmer und Spezialisten sein, meint Baden-Württembergs Kammerpräsident Wolfgang Riehle. Zugleich sollten sie sich auf weit mehr Feldern tummeln als in Architekturbüros und Ämtern. Am Ende seiner 16 Amtsjahre erläutert Riehle seine teilweise unorthodoxen Positionen zur Zukunft des Berufsstands.

30.10.201411 Min. 1 Kommentar schreiben
Berufspolitik im Blick: Wolfgang Riehle ist freier Architekt und freier Stadtplaner in Reutlingen, wurde seit 1998 viermal zum Präsidenten der Architektenkammer Baden-Württemberg gewählt und scheidet Ende November aus dem Amt.

Interview: Roland Stimpel

Baden-Württemberg sieht nach einer blühenden Architekten- und Architekturlandschaft aus. Wie kommt’s?

Ja, wir sind das Flächenland mit der höchsten Architektendichte in Deutschland. Das liegt an der prosperierenden Wirtschaft, aber auch an unseren neun Hochschulen mit Architekturfakultäten und der Lagegunst zwischen dem übrigen Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Nicht zuletzt stärkt der Erfolg sich immer wieder selbst: Man geht mit einem gewissen Selbstbewusstsein an die Dinge heran, wenn man vergleichsweise fern von Existenzängsten leben darf.

Auffällig ist die häufige Symbiose zwischen Architektur und Technik.

Das zieht sich durch die Geschichte; ich denke an Theodor Fischer, Fritz Leonhard, Frei Otto, Jörg und Mike Schlaich und Werner Sobek. Wir haben hier einerseits ein sehr pragmatisches, kopfgesteuertes Ingenieurdenken, das wir Architekten bewundern, andererseits bei den Ingenieuren eine Sehnsucht nach unserer Emotionalität. Immer wieder gibt es kongeniale Persönlichkeiten, die das verbunden haben.

In Stuttgart ballen sich Großbüros, die integrale Leistungen bieten und weltweit exportieren.

Das hat mit dem bei uns weitverbreiteten Tüfteln und mit unternehmerischem Denken zu tun. Da integriert man unterschiedliche Disziplinen, um wirtschaftliche Synergien zu erzeugen. Und nicht nur in der Architektur hat der wirtschaftliche Erfolg sehr viel mit Kreativität zu tun.

Gibt es keine Schattenseiten?

Natürlich ist es auf der anderen Seite ein Problem, dass in meiner Amtszeit die Zahl unserer Mitglieder von 17.000 auf über 24.000 gewachsen ist, während sich der Architekturmarkt zeitweise sogar zurückentwickelte. Da gab es Erscheinungen, die bis hin zur versteckten Armut gingen.

Was tut die Kammer dagegen?

Wir fördern und unterstützen die Bereitschaft von Architekten zu Netzwerken, Zusammenschlüssen und unternehmerischem Tun. Wir müssen uns da öffnen, um die Existenzgrundlage unserer Mitglieder zu sichern und zu verbreitern. Da reicht es nicht, dass wir uns nur um die HOAI kümmern, die zunächst die Freiberufler und subsidiär ihre Mitarbeiter ernährt. Wir müssen wegen des begrenzten Markts auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass nicht jeder Architekt zwingend Architektur machen muss. Alternativ gibt es zum Beispiel Erwerbsmöglichkeiten in der Fortbildung, bei Veröffentlichungen, in vielfachen Beratungs- und Vermittlungstätigkeiten bis hin zum Makler. Auch auf solche Gebiete erstreckt sich unser Fortbildungs- und Beratungsangebot. Zwar darf heute Grundstücksvermittlung nicht im Zusammenhang mit Architektenleistungen geschehen. Ich bezweifle aber, dass dieses Kopplungsverbot zur Aufrechterhaltung der guten Sitten wirklich nötig ist.

Zwischen freiberuflich und gewerblich tätigen Architekten gibt es aber strenge Grenzen.

Es passt immer weniger in die Zeit, dass wir in der Kammer so viele Schubladen haben, in die sich jeder einsortieren muss – vier für die Fachrichtungen und je eine für freiberufliche, gewerbliche, angestellte und beamtete Architekten – in allen Kombinationen sind das letztlich 16 Schubladen. Das ist mir zu starr und führt auch zu Verzerrungen: Warum darf heute jemand in der Schublade „baugewerblich“ gleichzeitig freiberuflich tätig sein, aber einer in der Nachbarschublade „freiberuflich“ nur ins Segment des Unternehmerischen eindringen, wenn er mit einem bürokratischen Akt wechselt? Andere formale Grenzen sind faktisch auch längst verschwommen: Zum Beispiel erbringen viele Angestellte und Beamte nebenbei auch freiberufliche Leistungen. Ich bin nicht so heilig, dass ich reglementieren will, dass nur eine bestimmte Gruppierung diese oder jene Tätigkeit ausüben darf. Wir müssen raus aus den Schubladen.

Soll der Bauherr nicht mehr unterscheiden können, ob der Architekt nur für ihn als Treuhänder tätig ist oder ob er auch eigene Interessen am Bau vertritt?

Wir sollten nicht mit diesen Unterscheidungen hausieren gehen, die vielen Bauherren noch nicht einmal klar sind, sondern mit der Marke Architekt. Für diese steht jemand, der eine bestimmte professionelle Haltung hat – und zwar unabhängig davon, ob er jetzt kommerziell im Sinne von baugewerblich tätig ist, ob sein Schwerpunkt der Entwurf ist oder ob er ganzheitlich als Treuhänder die Fahne des freien Berufs hochhält. Ich verstehe Architektsein als Qualitätsverpflichtung gegenüber Gesellschaft und Umwelt. Da ist es mir zunehmend egal, was klein gedruckt auf dem beruflichen Etikett steht. Ich möchte sogar möglichst viele Architekten an ganz anderen Stellen sehen und rate Kollegen, die sich im klassischen Freiberufler-Metier nicht zurechtfinden: Geht ins Bausegment einer Anwaltskanzlei, geht in die Unternehmensberatung oder in die Behörde. Es gibt so viele Nischen, wo man Architekten braucht und wo es der Baukultur gut tut, wenn dort welche sitzen. Wir haben doch eine phantastische Ausbildung, die uns eine solche Flexibilität erlaubt.

Was ist mit der Kernkompetenz des Architekten als Entwerfer?

In den Jahrzehnten nach dem Krieg hat der Berufsstand sehr stark differenziert zwischen dem Künstlerarchitekten und dem Gewerbetreibenden. Seitens der Künstler gab es einen ziemlichen Hochmut gegenüber allen, die auf irgendeine Weise kommerziell mit dem Bauen zu tun hatten. Das hat leider dazu geführt, dass manche Kollegen noch heute meinen: Wenn jemand entwurflich begabt ist, muss man ihm alle Lässlichkeiten bei Kosten, Terminen oder Ausführungsqualität nachsehen. Das färbt negativ auf den ganzen Berufsstand ab. Unsere Kunden und Auftraggeber haben nicht nur ein Recht auf gute Entwürfe, sondern genauso auf eine verlässliche Ausführung.

Das können doch Freiberufler auch leisten.

Selbstverständlich. Aber der Freiberufler kann bei uns zum Beispiel nicht das tun, was in der Schweiz gängige Praxis ist: auf eigene Rechnung ganze Projekte erstellen. Das führt dort zu beachtlichen Ergebnissen! Und es ist kein Missbrauch der Treuhänder-Tätigkeit, sondern kann ein zweites Standbein neben ihr bilden und sie professionell verbessern.

Wenn Architekten leichter ins Unternehmerische eindringen können, droht dann nicht auch das Eindringen von Unternehmen in die Architektur? Kammern sind doch gerade dazu da, hier klare Grenzen zu ziehen. Welche Funktion hätten sie dann noch?

Weiterhin eine ganz zentrale: Die Qualitätssicherung wird immer wichtiger. Die einzigartige Kompetenz der Architekten bleibt und wird gestärkt und damit auch ihre Selbstverwaltung. Herkömmliche Bauunternehmer sollen nicht Architekten werden, aber mehr Unternehmer sollten gelernte und überzeugte Architekten sein. Ich würde gern in den unterschiedlichsten Lebensbereichen Architekten implementieren, mit all ihrem Ethos, ihrer Begeisterung, ihrer Verantwortung für die Umwelt.

Das ist eine weite Vorstellung von Kammeraufgaben.

Wir sind längst weit über den Kulturauftrag und die berufsrechtliche Regulierung hinaus. Dienstleistung, Beratung und Lobbying für unsere Mitglieder stehen heute gleichrangig daneben. Früher gab es die gebetsmühlenartig gestellte Frage: Was tut die Kammer für uns? Sie ist heute verstummt. Umfrageergebnisse belegen eine hohe Zufriedenheit.

Die Kammer als gut geschmierter Dienstleistungsapparat?

Als Selbstverwaltungsapparat. Mich freut es besonders, dass sich in Baden-Württemberg mehr als 650 Kolleginnen und Kollegen ehrenamtlich in verschiedenen Gremien engagieren, in den Bezirken und den Kammergruppen auf Landkreisebene, regional oder in den landesweiten Ausschüssen. Gerade das Lokale und Regionale ist für uns wichtig, auch und gerade baukulturell. Auch hier reden wir viel vom Europa der Regionen. Wir haben Baukultur-Initiativen für den Schwarzwald und die Schwäbische Alb angestoßen, mit Blick auf die vorbildliche Region Vorarlberg im benachbarten Österreich.

Dazu initiieren wir Ausstellungen und Auszeichnungsverfahren in unterschiedlichen Baukategorien und prämieren beispielhafte Architektur, die regionale Verbundenheit und Tradition in die Gegenwart weiterführt. Gerade in der globalisierten Welt wird der Begriff der Heimat wieder wichtig, aber natürlich darf er nicht verkitscht werden.

Eine anderswo zunächst umstrittene Neuerung rief in Baden-Württemberg kaum Protest hervor: die Kontrolle der Kammer über die Pflichtfortbildungen.

Das haben andere Länder vor uns ausgefochten; auch wegen der dort guten Erfahrungen mit diesem Instrument ging es bei uns nicht mehr so hoch her. Wir haben überhaupt wenig Protest­potenzial in unseren Reihen, auch weil alle fachlichen und regionalen Gruppen in Entscheidungen einbezogen werden. Zur Fortbildung haben fast alle bei uns verstanden, wie wichtig es ist, ­gegenüber unseren Auftraggebern und der Politik deutlich zu machen, dass unser Berufsstand seine Fortbildung leistet und das auch beweisen kann.

Vorhin plädierten Sie für Durchlässigkeit zwischen den Tätigkeiten. Auf der anderen Seite fördern Sie die Spezialisierung.

Die Durchlässigkeit will ich formal; Spezialisierung kann inhaltlich guttun. Nischenmärkte werden für unseren kleinteilig organisierten Berufsstand immer wichtiger. Gerade Einzelkämpfer und kleine Büros können sich durch Spezialisierung und die Besetzung von Nischen durchaus lukrative Existenzgrundlagen schaffen. Vor einem Jahr haben wir in Baden-Württemberg Fachlisten eingeführt. Sie dienen der Orientierung unserer Auftraggeber, wenn sie einen Partner für spezielle Fragestellungen wie Denkmalschutz, Energieeffizienz oder Sachverständigenwesen suchen. Dabei verwenden wir bewusst nicht den Begriff „Facharchitekt“, denn Architekten verstehen sich traditionell eher als Generalisten und orientieren sich am Vorbild des klassischen Baumeisters. Unser Tätigkeitsfeld ist aber längst viel zu komplex, als dass es in der Tiefe von einer Person allein abgedeckt werden könnte. Der Baumeister von heute ist ein eingespieltes Team von Spezialisten.

Was halten Sie von einer Spezialisierung auf einzelne Leistungsphasen? Viele lehnen das ab, andere praktizieren es.

Weshalb nicht? Das ist jedenfalls besser, als sich durch Leistungsphasen hindurchzuquälen, auch wenn man nicht zu jeder vertiefte Kenntnisse oder Neigungen hat. Am besten aus meiner Sicht und auch im Sinne des Bauherrn ist allerdings ein Team, das mit unterschiedlichen Begabungsschwerpunkten und Spezialisierungen ein Projekt ganzheitlich bearbeitet und verantwortet.

Sie waren nicht nur in Stuttgart kammerpolitisch tätig, sondern auch in Berlin.

Auf Bundesebene erfolgreich waren aus meiner Sicht vor allem die beiden HOAI-Novellierungen 2009 und 2013, für die wir alle gekämpft haben – und der verstärkte Fokus auf Europa. Besonders spannend war und ist für mich der Einsatz für die Beseitigung unangemessener und existenzgefährdender Haftungsrisiken der Architekten als Gesamtschuldner. Da gab es spannende Dialoge mit Juristen sowie Lobbyisten anderer Interessenvertretungen, wie Verbraucherschutzverbänden, Bauwirtschaft und vielen mehr. Hier sind wir über drei Deutsche Baugerichtstage und eine Arbeitsgruppe im Bundesjustizministerium in der letzten Legislaturperiode schon weit vorangekommen, aber noch nicht am Ziel.

Daheim in Baden-Württemberg gerieten Sie in die Auseinandersetzung um Stuttgart 21.

Anders als ein Teil unserer Kollegen bin ich klar für dieses Projekt. Das sage ich aber nicht im Namen der Kammer, sondern als persönliche Auffassung, die ich auch als Präsident nicht verleugne. In der Kammer gab es sehr unterschiedliche Auffassungen, aber letztlich nach intensiver Diskussion einen Beschluss unserer Landesvertreterversammlung für das Projekt mit kritischer Begleitung. Ich habe mich im Nachgang der Auseinandersetzungen intensiv mit Themen wie Planungskultur und Kommunikation auseinandergesetzt. Wir Architekten mussten ziemlich schmerzhaft lernen, dass viele Menschen in ihrer Vorstellung nicht die Komplexität von zweidimensionalen Plänen in eine gebaute Wirklichkeit übersetzen. Deshalb bedarf es auch viel mehr verbaler Kommunikation, als wir Architekten oft traditionell gewohnt sind.

Rund um Stuttgart 21 wurde auch die Architektenschaft als Berufsstand ziemlich pauschal angegriffen.

Es ist ein Riesenverdienst des Protests, dass er unseren Sinn für Bürgerbeteiligung und Architekturvermittlung geschärft hat. Wir dürfen nicht einfach glauben, unsere Projekte seien so sinnfällig und selbsterklärend, dass sie derartige Aktivitäten nicht benötigten. Ich bedauere die harte Konfrontation. Aber ich sehe heute, dass Stuttgart 21 unterm Strich die Geburtsstunde einer neuen Kommunikationskultur zwischen Architekten und Bürgern war. Auch in den Kammern müssen wir unsere Mitglieder darin unterstützen, dem Bedürfnis nach mehr Offenheit und Transparenz entgegen zu kommen. Es sollte uns zum Beispiel gelinegn, Bürgerpartizipation künftig in Wettbewerbe zu integrieren.

Kammern erfüllen öffentliche Aufgaben. Verlangt das Loyalität zu Behörde und Politik?

Dass wir Körperschaft des öffentlichen Rechts sind, deutet zwar auf einen Behördencharakter hin. Aber das Behördenwesen ist mir selbst fremd; ich sehe Kammern als eine Interessenvertretung eines Berufsstands, bei dem die Selbstorganisation Privileg und Verpflichtung zugleich ist. Verpflichtung nach außen, wenn nötig auch gegen Widerstände für die Baukultur zu kämpfen. Und Verpflichtung nach innen. Etwa indem wir dafür sorgen, dass auch wirklich jedes Mitglied seiner persönlichen Verantwortung gerecht wird, beispielweise bei der obligatorischen Haftpflichtversicherung oder in der Weiterbildung. Und selbstverständlich sind wir als Kammer verpflichtet, unsere Arbeit so schlank und effektiv wie möglich zu machen, damit aus den Beiträgen der Mitglieder möglichst viele Leistungen für sie generiert werden können.

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1 Gedanke zu „„Raus aus den Schubladen“

  1. Zu „…Wir müssen wegen des begrenzten Markts auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass nicht jeder Architekt zwingend Architektur machen muss. Alternativ gibt es zum Beispiel Erwerbsmöglichkeiten in der Fortbildung, bei Veröffentlichungen, in vielfachen Beratungs- und Vermittlungstätigkeiten bis hin zum Makler…“ folgender Kommentar:
    Hier bin ich gleicher Meinung. Allerdings müssen die Kammern gleichzeitig dringend die offiziellen Berufsaufgaben der Architekten erweitern. Andernfalls laufen die Kollegen und Kolleginnen Gefahr, sich aus der Architektenversorgung in Richtung Deutsche Rentenversicherung verabschieden zu müssen, da derartige Tätigkeiten nicht durch den Artikel 3 Baukammerngesetz abgedeckt sind.

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